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Ernährung bei ADHS

Rund 100 Rezepte +App

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Ernährung bei ADHS
Martina Brunnmayr
Verlag
Maudrich
ISBN-Nummer
978-3-990-02147-7
Preis
18, 40 €

Köstlich schräg - und doch so gar nicht hilfreich


Ich gebe zu, auf Fragen wie „Habt ihr mal den Zucker weggelassen?“ reagiere ich durchaus allergisch, weil sie meine (über-?)empfindlichen Antennen deutlich spüren lassen, dass mein Gesprächspartner die ADHS in meiner Familie nicht ernst nimmt und mich verdächtigt, uns mit Junkfood zu ernähren und das Problem somit selbst erschaffen zu haben. Aber Kinder zu ernähren, die alle möglichen Konsistenzen und Lebensmittel kategorisch und vehement ablehnen und auch eigentlich keine Geduld zum Essen haben, ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Oh, da ist er ja wieder, der böse Zucker …

Um mich aber trotzdem dem leidigen Thema „Ernährung bei ADHS“ zu widmen, lese ich diesen Ratgeber von Martina Brunnmayr, der etwa zur Hälfte ein Kochbuch ist. Vielleicht werde ich darin ja etwas Neues darüber erfahren, wie ich ADHS-Kinder ernährt kriege, oder was ich den Eltern in meiner Selbsthilfegruppe raten kann, deren Kinder durch die Medikation appetitlos sind und zu wenig zunehmen, oder auch welche Tricks es gibt, mit denen auch Erwachsene mit ADHS, die vergessen haben zu essen (und einzukaufen) und daraufhin spontan Heißhunger haben, sich halbwegs gesund ernähren können. Also los!   

Die ersten 16 Seiten des Ratgebers sind erst einmal eine Einführung in das Thema ADHS: Wie zeigt es sich im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter? Und wie können Diagnose und Therapiemöglichkeiten aussehen? Obschon die Informationen sehr knapp sind, zum Teil etwas pauschal wirken und mich Aussagen wie „Beginnt meist in der Kindheit, die Symptome nehmen im Erwachsenenalter ab“ oder „Generell sollten alle anderen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft werden, bevor mit einer medikamentösen Therapie begonnen wird“ etwas anpieksen, ist dieser Überblick insofern doch positiv, als dass er sehr verständlich und übersichtlich geschrieben ist und deutlich wird, dass ADHS eine ernstzunehmende Störung ist, die ärztlicher Behandlung und Therapie, in vielen Fällen auch medikamentöser Art, bedarf. An keiner Stelle entsteht der Eindruck, man könne eine ADHS einfach beheben, indem man sich endlich mal ordentlich ernährt. Schon mal soweit realistisch.

Ach ja, beim Thema „Psychoedukation“ wünschte ich mir jedoch, die Autorin hätte an den unschätzbaren Wert von Selbsthilfegruppen gedacht und diesen erwähnt. Vielleicht bei der nächsten Ausgabe!

 

Der „Ernährungstherapie“, die als weiterer, immer mehr Beachtung findender Baustein der Therapie einer ADHS vorgestellt wird, ist der nächste Teil des Büchleins gewidmet. Es geht um eine „Ausgewogene Ernährung als Basis“, um Tabellen mit Ernährungsempfehlungen nach Alter, Fettsäuren, Omega-3-Fette, Vitamin D, Zucker und künstliche Farbstoffe. Durch ein Ess-Hyperaktivitäts-Protokoll, in dem man die zu den unterschiedlichen Mahlzeiten verzehrten Nahrungsmittel, den Ort des Verspeisens (warum auch immer) und Punkte von 0-10 jeweils für die empfundene Aktivität und Aufmerksamkeit eintragen soll, und verschiedene Auslassdiäten, die man zusammen mit einer Ernährungsfachkraft durchführen müsste, soll herausgefunden werden, welche Nahrungsmittel die ADHS-Symptome verstärken. Diese sollte man dann logischerweise in der Zukunft besser meiden. Denn – und das ist eine tolle Botschaft! – auch Zucker, Süßstoffe, Glutamate, Farbstoffe und andere Lebensmittel mit häufiger Unverträglichkeit dürfen weiterhin genussvoll verzehrt werden, wenn sich dies nicht negativ auf die Symptomatik auswirkt.

Jetzt frage ich mich nur: Wo kriege ich denn bloß so eine Ernährungsexpertin für die „Ernährungsanamnese“ und die Betreuung unserer Eliminationsdiäten her? 18 Wochen dauert die oligoantigene Diät? Puhhh, das ist lange …   

Naja, lese ich mal weiter. Aha, da werden ja die „Auswirkungen appetithemmender Medikamente“, also die Essattacken nach deren Wirkung, angesprochen und sogar in einem Schaubild dargestellt! Jetzt bin ich aber gespannt! - Och nö, die Lösung lautet leider knapp und gar nicht mal hilfreich: „Durch eine regelmäßige Mahlzeitenstruktur können Essattacken vermindert und zum Teil sogar vermieden werden.“ Okayyyy.

Meine Motivation, das Projekt „bessere Ernährung“ anzugehen, hat sich im Laufe dieses Kapitels ziemlich zerstreut, muss ich sagen. Auch die vier Seiten „Ernährungspsychologie“, auf denen es darum geht, dass man Essen doch bitteschön auch genießen soll, am besten natürlich gut gelaunt mit der ganzen Familie, und dass man „ungesundes“ Essen zwar vermeiden, aber bitte niemals verbieten sollte, ändern daran nichts.

Zumindest muss ich bei der abschließenden „Genussübung für den Alltag“ so richtig herzhaft lachen, als ich mir vorstelle, wie ich diese mit meinen Teenies durchführe: „Sammeln Sie positive Momente im Alltag, die Ihnen guttun, und schreiben Sie diese nieder (Wortwolke)! Abwandlung für Kinder: eine Zeichnung anfertigen.“ Damit ich mir das noch besser vorstellen kann, zeigt mir „Abbildung 15“ ein „Beispiel für die Genussübung eines Kindes mittels Wortwolke“. Soooo suüüüß!

Die Rezepte klingen zum Teil ganz lecker. Die „besonders kinderfreundlichen Speisen“ sind mit einem Smiley gekennzeichnet. Nur ob ich wirklich jemals versuchen werde, meinen Jungs eine Polenta-Cremesuppe oder Quinoa-Karotten-Laibchen anzudrehen? Und ob die ADHS-Überforderung im Alltag Zeit dazu lässt, sogar die Suppenwürze selber herzustellen? Besonders, weil die Zubereitung als Fließtext geschrieben ist, was das Kochen mit ADHS echt nicht leichter macht ... Und ob ich wohl Ruccola-Suppe mag? So viel mehr Fragen nach der Lektüre dieses Ratgebers als vorher und so wenig Zugewinn! Vielleicht sollte so eine Ernährungsfachkraft, die in diesem Büchlein immer wieder propagiert wird, mal eine Zeit lang bei uns einziehen. Ob die bei uns eine „Verbesserung der Symptomatik“ erreichen könnte?

Vera Bergmann