Dem Tag, dem Jahr, dem Leben Struktur geben
Ich bin ein großer Freund von Struktur und Ritualen. Vermutlich habe ich eine innere Neigung dazu. Aber ich glaube, mein ADHS-Sein hat diese Neigung auch herausgefordert. Rhythmen und Rituale helfen mir, in den Tritt zu kommen.
Gewiss, es gibt auch Rituale, die eine eher zwiespältige Wirkung haben, etwa der Absacker beim Nachhausekommen oder das Raucherpäuschen. Doch Großen und Ganzen sind Rituale etwas Gutes. Im Grunde sind wir Ritual-Wesen. Auch ADHS-betroffene Menschen sind es, obwohl wir uns, was Strukturen und Rituale betrifft, eher vorkommen wie Fremde in einem unbekannten Land. Ganz so unbekannt aber ist dieses Land nicht.
Das Buch des Schweizer Beraters und Coaches Lukas Niederberger beschäftigt sich gründlich mit Ritualen. Sie sind sein Lebensthema. Das merkt man an der Ausführlichkeit, mit der er darüberschreibt. Niederberger betrachtet Rituale von allen Seiten. Er weiß, dass das Thema (nicht nur für ADHS-Betroffene) durchaus problematisch ist. Wir leben in einer ent-ritualisierten und ent-strukturierten Zeit. Das Verständnis, dass Rhythmen und Rituale etwas Natürliches sind, nimmt immer weiter ab und damit gleichzeitig der Zugang zu uns selbst. Mit dieser Spannung beginnt er. Dann erklärt er, wo überall Rituale zu finden sind, in kleinen, selbstständigen Unterbrechungen des Alltags, aber vor allem in den Rhythmen des Jahres und den Festtagen. Fast alle Kirchenfeste sind eine Synthese aus Glauben und jahreszeitlichen Übergängen. Großen Wert legt er auf die praktischen Anleitungen, wie Rituale im eigenen Leben (wieder) vorkommen können. Indes – und das spricht für das Buch – sagt er selbst: „Obwohl im Buch keine pfannenfertigen Ritualrezepte vermittelt werden, kommen dennoch zahlreiche Beispiele von Ritualgestaltungen vor. Weil Rituale authentisch sein müssen und weil sie nur in einem bestimmten Kontext stimmig wirken … wird das Kopieren von erwähnten Ritualbeispielen nicht empfohlen.“ Rituale müssen stimmig sein. Das ist wesentlich. Das Buch bietet einem die Kraft der Rituale an. Aber man muss selbst für sich diejenigen entdecken, die einem guttun.
Warum empfehle ich dieses Buch ADHS-Betroffenen? Die Ausführlichkeit – damit meine ich nicht die Menge an Seiten, sondern die detaillierte Betrachtung aller Aspekte - kann die Lesegeduld überfordern und den Eindruck entstehen lassen, das Buch kommt nicht (oder nicht schnell genug) auf den Punkt. Um es klar zu sagen, diejenigen, die nicht gerne lesen, die nach schnellen, griffigen Lösungen suchen oder die sich mit differenzierter Betrachtungsweise schwertun, sollten „Rituale“ nicht lesen. Doch diejenigen, die merken, dass Rhythmen und Rituale ihnen irgendwie wohl tun, die ich in das Thema vertiefen wollen und über Rituale einen Weg finden möchten, ihr ADHSsein zu formen, für sie kann dieses Buch wichtig werden. Übrigens kann man aus der Lektüre selbst ein Ritual machen. Die Kapitel sind kurz. Sich zu einer bestimmten Zeit ein Kapitel zu Gemüte führen, ist nicht nur ein Lesegewinn, sondern ein erster Schritt in die Umsetzung.
Uwe Metz