Lern- und Verhaltensstrategien für Schule, Studium und Beruf
Etwas skeptisch nahm ich das gerade in 2. Auflage erschienene Buch von Helga Simchen zur Hand. Strategien für von AD(H)S Betroffenen jeglichen Alters? Das erschien mir doch ein sehr umfassender Anspruch für ein nur 250 Seiten umfassendes Werk. Doch bereits die ersten von 16 Kapiteln haben mich mit ihrer positiven und ermutigenden Grundhaltung überzeugt.
In klarer und gut verständlicher Sprache wird der Leser über die verschiedenen Ausprägungen der Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit und ohne Hyperaktivität informiert. Denn die grundlegenden Kenntnisse zur AD(H)S sind für Eltern, Therapeuten, Pädagogen und vor allem für die Betroffenen selbst sehr wichtig, wenn sie ihre Fähigkeit zur Selbsthilfe in ihrem jeweils individuellen Fall erweitern wollen. Und auch alle, die die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit AD(H)S ernst nehmen, finden in diesem Buch sowohl aktuelle Informationen als auch lebensnahe Tipps und Handlungsanweisungen für den Alltag.
Schon im Vorwort. (S. 11) stellt Frau Dr. Simchen „AD(H)S als eine Persönlichkeitsvariante“ vor. Das verstehe ich als Aufforderung dazu, dass jede und jeder Betroffene selbst die Verantwortung für sich und die Verbesserung seiner Lebensqualität übernehmen muss. Wie ein roter Faden führt dieser Anspruch durch die einzelnen Kapitel des Buches. Durch systematische Selbstinstruktion und konsequentes Üben können auch Erwachsene mit AD(H)S weiter an der Verbesserung ihrer Konzentrationsfähigkeit, dem Abbau von negativem Stress und der Bewältigung alltäglicher Herausforderungen arbeiten. Bei allen Vorschlägen und Anweisungen scheint sowohl die reiche Erfahrung der Autorin als Diagnostikerin und Therapeutin als auch ihre Sympathie für Menschen mit AD(H)S durch.
Die abwechslungsreiche Gestaltung des Textes mit zahlreichen erläuternden Abbildungen erleichtert auch dem schnell ermüdenden Leser den Umgang mit dem Buch. Das einmalige Durchlesen wird zwar durch die vielen Aufzählungen und häufigen inhaltlichen Wiederholungen erschwert. Aber zugleich gewinnt das Buch durch die klar gegliederte und übersichtliche Gestaltung außerordentlich. Um mich über Lösungsvorschläge für eine Situation rasch zu informieren, muss ich nicht in verschiedenen Kapiteln nachlesen, sondern bekomme alles zum gesuchten Thema Wichtige in sehr kompakter und ansprechender Form angeboten. Dadurch lässt sich dieses Buch sogar als eine Art Nachschlagewerk für Selbsthilfegruppenleiter und von AD(H)S betroffene Erwachsene sowie deren Therapeuten nutzen.
In dem ausführlichen und gut gegliederten Inhaltsverzeichnis kann man sich das entsprechende Kapitel heraussuchen. Nach einem kurzen Einleitungstext finden sich Aufzählungen von Symptomen, Problemen, Lösungsmöglichkeiten, Erziehungsmaßnahmen usw. Grafische Darstellungen erläutern den Inhalt. Mit einer kurzen Zusammenfassung wird jeder Abschnitt abgeschlossen. Dazwischen sind Textfelder mit knapp gefassten Exkursen zu verwandten Themen eingestreut. Wichtige inhaltliche Grundsätze werden in blau unterlegten Textfeldern hervorgehoben. Immer werden beide Ausprägungen der AD(H)S – mit und ohne Hyperkinese – in den Blick genommen. So wird es möglich, auch Zwischenformen einzuordnen und die Vorschläge in persönliche Handlungsoptionen zu „übersetzen“.
Ergänzend behandelt die Autorin in einem Kapitel die Wirkungsweise der gebräuchlichen Medikamente mit praktischen Hinweisen zur Anwendung und zu möglichen Nebenwirkungen. Besonders bemerkenswert finde ich den Abschnitt über Therapiefehler. In einer sachlich formulierten Aufzählung stellt Helga Simchen viele Fehlinformationen über Menschen mit AD(H)S, über deren Probleme und deren Behandlung in ein neues Licht.
Zur konkreten Unterstützung von Eltern und Familien betroffener Kinder fasst Helga Simchen die bereits in ihren früheren Veröffentlichungen beschriebenen und inzwischen bewährten Methoden zusammen. Sie empfiehlt einen konsequenten Erziehungsstil, der sich an den Bedürfnissen der Kinder mit einer AD(H)S orientiert. So kann den Kindern Selbstwertgefühl, aber auch Selbstverantwortung vermittelt werden. Vielleicht könnte dieses Buch sogar zu einem verständnisvollen und entspannten Umgang mit den besonderen Kindern auch im Umkreis betroffener Familien beitragen.
Abschließend möchte ich aus dem 13. Kapitel zitieren: „Meist reicht es nicht, die AD(H)S-Symptome zu kennen, man muss AD(H)S begreifen, um zu verstehen, dass diese Kinder und Jugendlichen weder krank noch behindert sind, es aber unter ungünstigen Bedingungen, d.h. bei zu später und bei unzureichender Behandlung werden können. Fast immer verfügen sie über eine gute bis sehr gute intellektuelle Grundausstattung, über die sie leider zu wenig verfügen können. Ihre Eltern, die betroffenen Kinder und Jugendlichen selbst, sowie ihre Therapeuten und Pädagogen sind deshalb gleichermaßen gefordert, ihnen bei der Beseitigung der Defizite zu helfen“ (S. 202).
Dieses Buch ist gewiss ein wertvoller Begleiter bei einem solchem Vorhaben!
Waltraut Steinhäuser