Sucht: Risiken, Formen, Interventionen. Interdisziplinäre Ansätze von der Prävention zur Therapie.
Die Monographie „ADHS und Sucht im Erwachsenenalter“ der Psychiaterin, Suchtmedizinerin und Psychotherapeutin Dr. med. Monika Ridinger befasst sich mit der Komorbidität von ADHS und Sucht als klinisch bedeutsamen psychiatrischen Störungen. Dabei wird sowohl auf die isolierte Form beider Störungsbilder als auch auf die Besonderheit der Kombination im Hinblick auf Ätiologie, Diagnostik und Therapie eingegangen. Es erschien in der Reihe „Sucht“ des Kohlhammer Verlags, die von Oliver Bilke-Hentsch, Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank und Michael Klein herausgegeben wird. Sie soll abschließend rund 30 Bände umfassen, die sich auf die Bereiche „Grundlagen und Interventionsansätze“, „Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen“ sowie „Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten“ verteilen. Die Monographie von Monika Ridinger ist dem dritten Bereich zugeordnet.
Inhalt
Die kurze Einleitung der Autorin geht insbesondere auf die über die gesamte Lebensspanne wirksamen Effekte der ADHS ein und betont die negativen Erfahrungen, welche von der ADHS betroffene Menschen bereits im Kindesalter sammeln und welche, neben neurophysiologischen Voraussetzungen, ein bedeutsamer sozialer Faktor in der späteren Ausbildung von Suchtverhalten sein können.
In Kapitel 2 stellt sie zwei Fallvignetten von Erwachsenen vor, die erst im Erwachsenenalter die Diagnose einer ADHS erhielten. Die erste Vignette beschreibt einen Physikprofessor, der im Zuge der Diagnostik von Verhaltensauffälligkeiten seines Sohnes mit der eigenen ADHS-Betroffenheit konfrontiert wurde. Zugleich ist die Fallvignette ein Beispiel für das durchaus mögliche erfolgreiche Leben mit der ADHS ohne Diagnose und Therapie, jedoch unter günstigen sozialen Bedingungen. Die zweite Vignette beschreibt eine beruflich gleichfalls erfolgreiche junge Frau in führender Stellung, die jedoch unter dem Eindruck beruflicher Anforderungen und eines scheiternden Privatlebens schleichend in die Alkoholabhängigkeit gerät und schließlich stationär behandelt werden muss.
Kapitel 3 „Allgemeine und klinische Epidemiologie der ADHS“ befasst sich zunächst mit der Prävalenz der ADHS im Kindes- und Erwachsenenalter, sodann mit der Prävalenz von ADHS und Sucht. Die Autorin weist auf zahlreiche internationale Studien hin, welche das erheblich erhöhte Risiko von ADHS-Betroffenen belegen, die Diagnose weiterer psychiatrischer Störungen zu erhalten und Suchtverhalten auszubilden. Dabei wird, wiederum anhand eines Fallbeispiels, sowohl auf die ADHS und substanzgebundene als auch substanzungebundene Abhängigkeiten eingegangen.
In Kapitel 4 „Klinik, Verlauf und Prognose der ADHS“ wird anhand mehrerer Fallbeispiele die Symptomatik der ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter dargestellt. Darüber hinaus wird auf den Zusammenhang von ADHS und weiteren psychischen Störungen eingegangen.
Das umfangreiche Kapitel 5 „Ätiologie der ADHS“, dessen Verständlichkeit wiederum durch mehrere Fallbeispiele erhöht wird, geht auf die Ursachen der ADHS ein, wie sie in der aktuellen Forschung diskutiert werden. Unterkapitel befassen sich mit dem Dopamin-, Noradrenalin-, Serotonin- und Acetylcholinstoffwechsel sowie ihrer jeweiligen Bedeutung für die Ausbildung der ADHS-Symptomatik. Desweiteren wird auf strukturelle und funktionelle Besonderheiten des menschlichen Gehirns bei ADHS eingegangen. Ein umfangreiches eigenständiges Unterkapitel widmet sich den neurophysiologischen Veränderungen bei ADHS im Zusammenhang mit der Sucht. Es geht, gestützt auf zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen, auf alle wesentlichen Zusammenhänge von ADHS und Sucht ein, dies insbesondere unter Berücksichtigung des Inhibitoren Systems, des Aufmerksamkeitssystems, der Emotionsregulation und des Gedächtnisses.
In Kapitel 6 „Spezielle Suchtdynamik“ geht es ans Eingemachte des Zusammenhangs von ADHS und Sucht. Zunächst werden Hinweise auf gemeinsame genetische Varianten bei ADHS und Sucht dargelegt, dann wird das Modell der fehlgeleiteten Selbstmedikation als derzeit überzeugendstes Konzept zur Erklärung der überhäufigen Entstehung von Sucht bei ADHS vorgestellt. In einem weiteren Unterkapitel werden Risikofaktoren für die Komorbidität von ADHS und Sucht beschrieben, darunter eine gestörte emotionale Stressregulation und erhöhte Affektlabilität bei ADHS sowie die kritische Verbindung von ADHS, Sucht und bereits im Kindesalter entstehenden Sozialverhaltensproblemen.
In Kapitel 7 „Diagnosen und Differenzialdiagnosen“ wird zunächst separat auf die ADHS-Diagnostik im Kindes- und Erwachsenenalter eingegangen. Ein weiteres Unterkapitel widmet sich der Diagnostik der Sucht im Vergleich der Diagnosekriterien von ICD-10 (WHO) und des neueren DSM-5 (APA).
Kapitel 8 „Interventionsplanung und interdisziplinäre Therapieansätze“ beschreibt nach einleitenden Bemerkungen, welche als beste Intervention der i.d.R. sich erst im Erwachsenenalter ausbildenden Suchtproblematik die frühe Diagnose und konsequente Behandlung der ADHS bereits im Kindesalter benennt, in mehreren Unterkapiteln zunächst die medikamentöse Behandlung der ADHS sowie der komorbiden ADHS und Sucht im Allgemeinen, dann ausgewählte Medikamente aus der Gruppe der Stimulanzien, der Antidepressiva sowie der Alpha-2-Agonisten im Einzelnen sowie im Hinblick auf ihre Wirkung, Nebenwirkung und Interaktionen mit der Suchtsymptomatik. Ein viertes Unterkapitel widmet sich den nicht-medikamentösen Interventionen bei ADHS und Sucht im Erwachsenenalter, wobei kognitiv-behaviorale Therapien, Psychoedukation, Neurofeedback und Achtsamkeitstrainings kurz vorgestellt werden. Ein abschließendes Unterkapitel berichtet kurz über klinische Erfahrungen bei der Behandlung von ADHS und Sucht.
Das – nicht zuletzt angesichts des Hinweises der Autorin, die beste Suchtprävention sei eine frühzeitige Behandlung der ADHS – mit nur drei Seiten sehr kurze Kapitel 9 „Präventive Ansätze bei ADHS und Sucht“ befasst sich mit Möglichkeiten, sowohl die Ausbildung einer ADHS- als insbesondere auch Suchtproblematik durch präventive Maßnahmen einzudämmen. Im Fall einer späteren Neuauflage bedarf dieses Kapitel mehr als alle anderen einer Ergänzung, da es nicht zuletzt ein Ort sein könnte, weitgehender und differenzierter über soziale Faktoren bei der Ausbildung psychischer Störungen zu berichten und Möglichkeiten zu diskutieren, wie diese Faktoren (u.a. günstige Anregung- und Erziehungsbedingungen in Familien, systematische frühkindliche Förderung, Verbesserung des Schulsystems, Bedeutsamkeit der Peer-Kontakte) positiv beeinflusst werden können.
Das kurze Abschlusskapitel 10 unterstreicht mit einem längeren Fallbeispiel die Effektivität eines multimodalen Therapieansatzes mit Verbindung von Psychotherapie, Beratung und Medikation.
Bewertung
Die Monographie „ADHS und Sucht im Erwachsenenalter“ von Monika Ridinger bietet einen ausgezeichneten Überblick sowohl über die ADHS, ihre Entstehung, Diagnose und Behandlung, als auch über das Thema Sucht in klarem Fokus auf den Zusammenhang mit der ADHS. Suchtmediziner und andere, die sich primär professionell mit Suchterkrankungen bzw. Süchtigen befassen, werden, insbesondere im Hinblick auf einzelne Suchtformen, viele Informationen vermissen, welche die jeweilige Sucht in ihrer Erscheinung sowie den vielfältigen Möglichkeiten ihrer edukativen und therapeutischen Adressierung beschreiben. Allerdings können nachgerade auch Fachleute aus dem Bereich der Suchtberatung und Suchttherapie viel Neues über den grundlegenden Zusammenhang von ADHS und Sucht lernen, was ihnen im Alltag ihrer Profession dienlich sein wird.
Dabei zeichnet sich das Buch gerade durch seine gute Lesbarkeit auch für Laien aus. Ohne aktuelle wissenschaftliche Befunde zu reduzieren oder zu verzerren, gelingt es der Autorin, die empirischen Grundlagen von Ursache, Diagnose und Behandlung sowohl der ADHS als auch des Suchtverhaltens in verständlichen Sätzen und sinnvollem Buchaufbau zu beschreiben. Fehlendes Wissen insbesondere im Bereich der Neurologie müssen sich Laien gegebenenfalls, sind sie an einem weitergehenden Verständnis der Zusammenhänge interessiert, durch gesonderte Erarbeitung der Fachbegriffe und eigenständige Lektüre aneignen. Auf Grundlage eines zumindest basalen Wissens über Hirnstrukturen und Neurotransmitter ist das Buch jedoch gut verständlich und setzt weder ein Studium der Medizin noch klinische Erfahrungen im Umgang mit ADHS und Sucht voraus.
Die insgesamt 19 Fallbeispiele helfen, die theoretischen Ausführungen in den jeweiligen Abschnitten zu verstehen, insofern sie theoretische Zusammenhänge mit beispielhaftem Verhalten verknüpfen. Allerdings sind die Fallbeispiele ungleichmäßig über die einzelnen Kapitel verteilt und nicht immer direkt auf die sie umgebenden Textpassagen zugeschnitten. Bisweilen machte es Sinn, die Autorin würde nach der Wiedergabe eines Fallbeispiels nochmals auf die exemplarischen Aspekte des Falls für das Verständnis der jeweiligen Passage eingehen.
Interessant, wenngleich ebenfalls unsystematisch über das Buch verteilt, sind die abgesetzten Kästchen, die mal umrandet, mal blau unterlegt besondere Hinweise und Vertiefungen, bisweilen aber auch Zusammenfassungen liefern. Wenige Grafiken insbesondere in Kapitel 5 visualisieren darüber hinaus komplexere Zusammenhänge.
Fazit
Alles in allem handelt es sich bei „ADHS und Sucht im Erwachsenenalter“ der Psychiaterin und Psychotherapeutin Monika Ridinger um ein ausgezeichnetes Buch zur Verbindung von ADHS und Sucht. Es stellt sowohl die in Teilen genetisch bedingten, in Teilen durch Prägung bestimmten neurophysiologischen als auch die sozialen Faktoren von ADHS- und Suchtsymptomatik in nachvollziehbarer Weise vor und erklärt den Zusammenhang beider Störungsbilder nicht zuletzt in ihrer bedeutsamen zeitlichen Abfolge. Ridingers Monographie macht deutlich, welche erheblichen Effekte von der ADHS auf den Lebensverlauf der Betroffenen ausgehen und wie auf Grundlage ungünstiger Umweltbedingungen – problematische Kindheitserfahrung, abweichendes Sozialverhalten, soziale Ausgrenzung, Stress und Versagen – die ADHS zum massiven Risiko für die Ausbildung von Abhängigkeit und Suchterkrankungen wird. Dabei ist das Buch eine gelungene Mischung aus wissenschaftlicher Fundierung einerseits, allgemeiner Verständlichkeit andererseits. Es kann von Fachleuten wie interessierten Laien gleichermaßen mit Gewinn gelesen werden und ist damit ein wunderbares Beispiel für ein medizinisches Fachbuch, das nicht zuletzt auch die von den abgehandelten Störungen betroffenen Patienten zum besseren Verständnis ihrer eigenen Problematik lesen können und sollten.
Dr. Johannes Streif
aus neue AKZENTE 109/2018