Stellungnahme des ADHS Deutschland e.V. zum Einsatz von sogenannten „Sandwesten“ bei verhaltensauffälligen Kindern, insbesondere Kindern mit ADHS
Seit rund zwei Wochen beschäftigt das Thema „Sandwesten“ die deutschen Medien. Dabei handelt es sich um mit Sand beschwerte Westen, welche Kinder, aber auch Erwachsene tragen können, um den eigenen Körper stärker zu spüren und ruhiger zu sitzen. Die mediale Aufmerksamkeit begann mit einem Bericht im Hamburger Abendblatt. Inzwischen hat selbst die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung eine ganze Seite dem Thema gewidmet, ergänzt durch Abbildungen aus einem Buch des 19. Jahrhunderts, in welchem der Erfinder der Schrebergärten aus heutiger Sicht absurde Hilfsmittel zur geraden Haltung und dem Schlaf auf dem Rücken vorstellte.
Die Sandwesten sind weder eine neue Erfindung noch Relikte einer früheren Zeit. Seit vielen Jahren beschäftigen sich Kindertherapeuten mit der Frage, wie man unruhigen Kindern helfen kann, ruhiger zu sitzen und sich besser zu konzentrieren. Zugleich machte man sich Gedanken über geeignete Betten und Decken zum Schlafen, da viele hyperaktive Kinder auch im Schlaf sehr unruhig sind. In diesem Zusammenhang gibt es seit zumindest zwei Jahrzehnten die Idee schwerer Westen, zumeist „Sandwesten“, und schwerer Bettdecken, oft aufgrund ihrer Füllung „Kugeldecken“ genannt, die unruhigen Kindern helfen sollen, ruhiger zu sitzen oder zu liegen.
Der Ansatz dieser Sandwesten oder Kugeldecken ist dabei ein völlig anderer als jener der Fixierung in der Psychiatrie oder in pädagogischen Überlegungen des 19. Jahrhunderts, als der Leipziger Arzt Daniel Gottlob Moritz Schreber in seinem Buch „Kalligraphie“ von 1858 diverse mechanische Hilfsmittel vorschlug, die seiner Ansicht nach eine gesunde Haltung der Kinder beim Sitzen, Stehen und Schlafen gewährleisten sollten. Schließlich führen weder Sandwesten noch Kugeldecken zu einer tatsächlichen Fixierung auf dem Stuhl oder im Bett. Vielmehr geben sie dem Körper ein Gefühl der Schwere, das vor allem auch unwillkürliche Bewegung teilweise unterdrückt. Will das Kind jedoch von Stuhl oder Bett aufstehen, kann es dies natürlich, da sowohl die Sandwesten als auch die Kugeldecken nur wenige Kilogramm schwer sind.
Wer nun Hilfsmittel wie Sandwesten oder Kugeldecken pauschal ablehnt, sollte sich bewusst machen, dass viele hyperaktive Menschen, nicht nur Kinder, unter ihrer körperlichen Unruhe durchaus leiden. Es ist ja nicht so, dass jeder zu jeder Zeit und in jedem Lebensalter sich beliebig viel bewegen möchte. Auch hyperaktive Kinder mögen bisweilen Tätigkeiten am Schreibtisch oder an der Werkbank und ärgern sich, wenn ihre motorische Unruhe sie beim Zeichnen oder Basteln behindert. ADHS-Kinder werden wie andere Kinder abends müde und können oft dennoch nicht einschlafen, da die permanente Unruhe des Körpers sie daran hindert. Nicht wenige hyperaktive Kinder lieben es, sich im Spiel unter Bänken, in Schränken oder engen Kisten zu verstecken. Natürlich wollen sie selbst entscheiden können, wann sie diese Orte wieder verlassen, doch schätzen sie zumindest für kurze Zeit die körperliche Begrenzung, den äußeren Druck, gegen den sie ankämpfen können, den Widerstand gegen ihre oft ausufernden Bewegungen. Wer glaubt, dass ADHS-Kinder ihren Bewegungsdrang selbst immer und überall positiv erleben, gar als sinnstiftend und Ausdruck ihrer eigenen Persönlichkeit, der versteht nichts von der ADHS.
Die nun entbrannte Diskussion über die Sandwesten in den Medien geht einmal mehr am Thema wie auch den Betroffenen vorbei. Sandwesten und Kugeldecken sind keine Therapieformen zur Behandlung der ADHS. Sie ersetzen keine anderen therapeutischen Maßnahmen, die notwendig sind, und haben keine anhaltende Wirkung auf die Selbstkontrolle von Bewegungsimpulsen und Ablenkbarkeit. Fairerweise muss man an dieser Stelle jedoch anmerken, dass die meisten Pädagogen, welche den Einsatz der Sandwesten im Schulalltag positiv erlebten, gar nicht von einer spezifischen ADHS-Therapie sprechen. Mögen deren Erklärungsmodelle für die Wirksamkeit der Sandwesten bisweilen auch esoterisch anmuten, wenn „von sich selbst spüren“ und „den Körper erden“ die Rede ist, so kann der situativ positive Effekt solch beschwerender Hilfsmittel psychologisch durchaus erklärt werden.
An den Betroffenen geht die Diskussion insofern vorbei, als die nun aufgeflammte Kritik, es handele sich um quasi-psychiatrische Fixierungen und den Ausdruck einer archaischen Pädagogik der Selbstwahrnehmung der meisten Nutzer widerspricht, welche das freiwillige Tragen der Westen für 20 Minuten als hilfreich, zumindest aber irgendwie anders empfinden, als eine eigene, ungewohnte, besondere Erfahrung. Sie haben zunächst einmal nichts von neuen Diskussionen über das Schulsystem und die Organisation des Unterrichts, so berechtigt manche Kritik daran sein mag. Sagt beispielsweise der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Schulte-Markwort, ihm sei statt der Weste die beruhigende Hand der Lehrerin auf der Schulter der Schüler lieber, so erfüllt die gelegentliche Berührung zur Aufmunterung und Refokussierung allerdings nicht dieselbe Funktion wie eine Sandweste. Interessanterweise sind Berührungen der Schüler durch Lehrer in den meisten Bundesländern sogar verboten; über Sandwesten haben sich die Behörden bis dato weniger Gedanken gemacht. Schulen und Schulsysteme ändern sich nur langsam. Von den vielen guten Ideen und Forderungen an die Schule von morgen haben die Kinder von heute meist herzlich wenig.
Bleibt ein weiterer Aspekt, den Kritiker gegen die Sandwesten vorbringen: die sichtbare Stigmatisierung der Kinder, die sie tragen. Allerdings setzt eine solche Stigmatisierung zweierlei voraus. Erstens müssten die Sandwesten zwangsweise und bei bestimmten Diagnosen zum Einsatz kommen, sodass andere Kinder die Weste weder tragen wollen noch tragen müssen, weil sie nicht zur festen Gruppe der Kinder gehören, für welche die Westen da sind. Zweitens impliziert die Annahme einer automatischen Stigmatisierung ein Bewusstsein der Kinder dafür, was normal und was gestört ist. Dann aber haben die betroffenen Kinder in einer solchen Klassengemeinschaft ein grundsätzliches Problem: nicht anders sein zu dürfen, unaufmerksam, unruhig, am Ende gar mit der Diagnose ADHS.
„Is Stigma Back in Style?“ schrieb 2012 Judith Warner im TIME-Magazin über die zunehmende pauschale Kritik an der ADHS-Diagnose. Schlechte Eltern, schlechte Schulen, schlechte Ärzte – das war der Autorin doch zu billig. Was aber bedeutet die Angst vor Stigmatisierung durch Sandwesen denn anderes als das Eingeständnis, dass unruhig und unkonzentriert zu sein in einer Schulklasse von Mitschülern, Lehrern und anderen Eltern negativ wahrgenommen wird. Zu sagen, dass sich das Tragen von Sandwesten im Unterricht aus Gründen der Stigmatisierung grundsätzlich verbietet, würde dem gleichkommen, auch andere Zeichen des Besonderen, Anderen, Behinderten nach Möglichkeit ausblenden zu wollen, um die Träger dieser vermeintlichen Kainsmale zu schützen. Bitte keine behinderten Kinder in der Hochbegabtenklasse unserer Tochter, die leiden da doch nur unter dem intellektuellen Abstand zu den Kameraden. Bitte keine Asylbewerberkinder in unserer Sprengelschule, die werden hier bloß Außenseiter sein. Bitte keine Kinder mit ADHS, die stören den Unterricht. Bestenfalls einen Autisten mit Schulbegleiter. Ist es das, was wir in Deutschland unter Inklusion verstehen?!
Macht es vor diesem Hintergrund nicht Sinn, die Frage der Sandwesten etliche Etagen tiefer aufzuhängen? Kein Kind wird gezwungen, sie zu tragen. Gibt es keine physiologischen Gründe, die im Einzelfall gegen das Tragen von Sandwesten sprechen, sollen die Kinder doch selbst entscheiden, ob sie zeitweise eine solche Weste tragen wollen oder nicht. Brauchen wir dafür eine wissenschaftliche Studie, welche die generelle Wirksamkeit dieser Maßnahme beweist? Reicht es nicht, dass einzelne Kinder, ihre Eltern und Lehrer sie als hilfreich wahrnehmen? Ein solcher Konsens ist doch eine hinreichende Grundlage zur Nutzung von Sandwesten im Unterricht, mehr braucht es dazu nicht.
Was wir jedoch auf keinen Fall brauchen ist eine weitere ideologische Diskussion, die eine einzelne Maßnahme, mag sie nun sinnvoll sein oder nicht, gegen all die Bedingungen unseres Schulsystems und unserer Gesellschaft ausspielt. Ja, kleine Lerngruppen mit perfekt qualifizierten Lehrern, die zugleich Pädagogen und Psychologen sind, vorzugsweise mit einer fünfjährigen Ausbildung in Kinder- und Jugendpsychotherapie, sowohl tiefenpsychologisch als auch verhaltenstherapeutisch fundiert, gescheit und gelassen, mit 20-jähriger Berufserfahrung und zugleich dem idealistischen Elan eines Berufsanfängers, das alles in modernen, nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgeleuchteten, kindgerechten und ökologisch korrekten Schulgebäuden, unterstützt von endlos tolerant-liebenden, bildungsnahen, erzieherisch routinierten und bis zur Selbstaufgabe engagierten Eltern – das mag für manchen eine wundervolle Vision sein, in der jede kindliche Lernstörung und Verhaltensauffälligkeit ohne Zwangsmaßnahmen und Medikation aufgefangen werden kann.
Leider, in gewisser Hinsicht aber auch zum Glück, gibt es diese vermeintlich perfekten, im Grunde aber konformistischen, unendlich langweiligen Bedingungen des Lebens nicht. Bis zur Vollendung des Menschengeschlechts bescheiden wir uns daher lieber mit kleinen pragmatischen Schritten, die das Leben unserer Kinder leichter machen können. Dem einen helfen sie, dem anderen nicht. So ist das Leben nun mal. Und auch das ist gut so!
Dr. Johannes Streif