von Dr. Klaus Skrodzki, Forchheim
„Wahrnehmungsstörungen“ als bedeutsames Merkmal des HKS
Bei der medizinischen Untersuchung erkennt man oft einen unharmonischen Bewegungsablauf und damit eine deutliche Diskrepanz zu anderen Kindern: während die Bewegung gesunder Kinder meist rund und wellenförmig ist, wirken diese Kinder ausgesprochen eckig, ruckartig und ungeschickt. Neurologisch finden sich zum Teil mäßige Störungen der Feinmotorik, der Balancefähigkeit, der allgemeinen Geschicklichkeit, also insgesamt Zeichen einer leichten motorischen Störung.
Das hat Auswirkungen besonders auf die Schrift: Allein der motorische Vorgang des Schreibens ist für sie eine Qual und mit großer Anstrengung verbunden: der Stift wird verkrampft gehalten, die Hand ist schweißnass und die Buchstaben werden ins Papier eingekerbt. Ihre Schrift gefällt ihnen auch nicht, aber es geht nicht besser. Und wenn sie einmal ein paar gute Zeilen zu Papier bringen, ernten sie kein Lob, sondern nur den Tadel: „siehst du, du könntest ja, wenn du nur wolltest“.
Bei diffiziler Untersuchung entdeckt man zahlreiche Wahrnehmungs- und Programmsteuerungsstörungen und fast immer erhebliche Verzögerungen in der psychomotorischen Entwicklung und der sensorischen Integration. Unter sensorischer Integration versteht man die sinnvolle Ordnung, Aufgliederung und Zusammenfassung von Sinneserregung, um diese nutzen zu können. Die Nutzung besteht in der Wahrnehmung und Erfassung des Körpers in Bezug zur Umwelt. Durch die sensorische Integration wird erreicht, dass alle Abschnitte des zentralen Nervensystems zusammen arbeiten, die erforderlich sind, damit ein Mensch sich sinnvoll mit seiner Umgebung auseinandersetzen kann und Befriedigung dabei erfährt.
Die wichtigsten Wahrnehmungsstörungen:
Verminderte Erfassungsspanne
Wird ein 4-jähriges Kind beauftragt, 3 Gläser, 2 Gabeln, 2 Löffel und Senf aus der Küche zu holen, so hat es außer dem Senf das meiste vergessen, ehe es die Küche erreicht. Eine so große Zahl von Information kann sein Gehirn noch nicht aufnehmen. Bereits Ende des Grundschulalters erreicht die sog. Erfassungsspanne Erwachsenenniveau und erfasst rund 7 +/- 2 Einzelelemente. Je vertrauter eine Information ist, desto mehr Umfang kann das Einzelelement haben. Bei vielen Kindern mit ADHS ist die Erfassungsspanne jedoch nicht altersgemäß entwickelt. Diese Verminderung hat in der Schule verheerende Folgen: weil vieles nur halb aufgenommen wird, entstehen große Lücken und das Kind muss sein Halbwissen dauernd mit eigenen Überlegungen und Schlussfolgerungen zu kompensieren versuchen.
Verminderte Kanalkapazität
Alles was man gleichzeitig hören, sehen, riechen, schmecken, tasten und fühlen kann, fließt wie in einem Sammelkanal auf uns zu und wird registriert. Dieser Kanal hat nur ein bestimmtes Fassungsvermögen, was seine Kapazität übersteigt, geht verloren. Die Kanalkapazität ist die Summe der Erfassungsspannen aller Sinnesbereiche. Je umfangreicher ein Teilgebiet ist, desto geringer ist die Kapazität für andere Teilaspekte. Die vielen Sinnesreize, die mangels Kanalkapazität nicht mehr aufgenommen werden können, führen aber zur viel zitierten Reizüberflutung. Das Übermaß an nicht verarbeiteten Reizen bewirkt entweder Überaktivität, also Zappeligkeit oder völliges Abschalten mit nachfolgender Handlungsunfähigkeit. So ist der fehlende Blickkontakt vieler dieser Kinder, wahrscheinlich eine vernünftige Reaktion, um wenigstens einen Teil der visuellen Reize auszuschalten.
Verminderte Diskriminationsfähigkeit
Vieles in unserem Verhalten wird gesteuert durch die Fähigkeit, Unterschiede wahrzunehmen und die Bedeutung dieser Unterschiede zu erkennen. Wenn ein Kind also Eindrücke nicht in allen Feinheiten differenzieren kann, kann es Wichtiges und Unwichtiges nicht voneinander unterscheiden und es verhält sich daher unangepasst und ihm fehlt eine wesentliche Kontrolle seines Verhaltens. Es hat Mühe zu bemerken, „was es geschlagen hat“.
Veränderte Reizschwelle
Für manche Sinnesqualitäten ist die Reizschwelle bei diesen Kindern herabgesetzt, so dass z. B. körperliche Zärtlichkeiten einen unangenehmen Reiz bedeuten können oder innere Unstimmigkeiten aus dem körperlichen oder seelischen Bereich intensiver empfunden werden und das Kind zum Schrei-Baby wird. Für andere Sinnesqualitäten kann die Reizschwelle erhöht sein, so dass z. B. Schmerz viel weniger bemerkt wird. Bei gemindertem Berührungsempfinden werden Spielsachen auch später noch auffallend häufig in den Mund genommen, um zusätzliche Information zu gewinnen. Dabei sind diese Kinder allgemein sehr sensibel, erspüren Stimmungen ihrer Umwelt – insbesondere Ablehnung - und leiden deshalb in einer problemgeladenen Atmosphäre mehr als andere.
Verlangsamte Umstellungsfähigkeit
Wenn eine Arbeitstechnik einmal angelernt ist, fällt es Kindern mit ADHS besonders schwer, eine neue Arbeitstechnik zu erlernen. Ungeeignete Programme werden nicht unterdrückt, sondern laufen immer wieder ab. Solange alles im gewohnten Trott läuft, können sie sich zurechtfinden, wird jedoch rasche Umstellung verlangt, sind sie überfordert und versagen.
Intermodale Störung
Informationen aus verschiedenen Sinnesmodalitäten, also visuelle, auditive und taktile Informationen werden nicht sinngemäß koordiniert, so dass diese Kinder Mühe haben, Erfahrungen aus einem Lebensbereich in einen anderen zu überragen. Schon der halbjährige Säugling weiß, dass etwas zum Hören auch etwas zum Sehen ist und dreht deshalb den Kopf nach einer Geräuschquelle. Genauso hat er gelernt, dass etwas zum Tasten auch etwas zum Sehen ist und führt Gegenstände, die ihm in die Hand gelegt werden, vor die Augen. Das Kleinkind, das Spielzeug in den Händen dreht, aber mit den Augen anderswo ist, verbindet Tasten und Sehen nicht ausreichend miteinander. Wenn die intermodale Störung anhält, entstehen auch beim Schreiben und Lesen dadurch Probleme.
Seriale Störung
Durch lückenhafte Wahrnehmung können zeitlich nacheinander folgende Abläufe einer Handlung schlecht erkannt und reproduziert werden. Schon im 2. Lebensjahr weiß ein Kind, wenn ihm die Mutter den Pullover über den Kopf zieht, dass jetzt nacheinander erst der eine und dann der andere Arm durch den Ärmel gesteckt werden muss und hebt den entsprechenden Arm hoch. Diese Fähigkeit, Handlungsabläufe zu erkennen und nachzuvollziehen, ist außerordentlich wichtig. Bei mangelhaftem Nachahmen im Kleinkindesalter kommt es zu unbefriedigendem Spielverhalten und später in der Schule zu Schwierigkeiten in allen Bereichen, die bestimmte Abläufe beinhalten. Durch mangelhaftes Nachahmen entgehen diesen Kindern Erfahrungen, denn vieles, was das kleine Kind nachahmend spielerisch einübt, muss das serial gestörte Kind später mühsam und bewusst erlernen.
Mangelhafte Codierung und Optimierung erlernter Abläufe
Wenn wir etwas neu erlernen, so speichern wir erst Einzelelemente im Gehirn. Später - mit mehr Erfahrung - werden Gruppen von Einzelelementen gespeichert, so dass mit einem einzigen Impuls eine ganze Gruppe von gespeicherten Eindrücken abgerufen werden kann. Nur dadurch können Prozesse mit großer Geschwindigkeit ablaufen. Der Vorgang „Schuhe binden“ ist für den Erfahrenen ein einziger Impuls, der automatisch abläuft. Für das Kind mit ADHS bleibt es eine große Summe von Einzelelementen: „Schnürsenkel auf beiden Seiten anziehen, Bänder untereinander durchführen zum Knoten, den Knoten zuziehen und festhalten. Ein Band zur Schlaufe legen, das zweite Band um das erste legen, umknicken und darunter durchschieben, beide Enden festhalten und gleichmäßig ziehen, ohne dass die Enden herausrutschen“. Ganz ähnlich sieht es beim Schreiben aus: Trotz zahlreicher Wiederholungen bleiben für diese Kinder ganze Bewegungsabläufe immer noch die Summe einzelner Bewegungsschritte, d. h. sie benötigen für die Wiederholung dieser Vorgänge ungleich mehr Zeit und Energie und dadurch kommt es schneller zur Ermüdung und zum Überdruss.
Fehlerhafte Suchstrategien
Der Zugriff auf gespeicherte Daten ist nicht immer direkt möglich. So müssen Suchstrategien eingesetzt werden, um ans Ziel zu kommen: Man kann ein Feld systematisch absuchen oder durch Assoziation über andere gespeicherte Daten eine Lösung finden. Fehlt eine Suchstrategie, wird eine Lösung bestenfalls zufällig gefunden. Kinder mit ADHS suchen meistens wahllos herum, übersehen ganze Felder, suchen andere mehrfach ab, erscheinen auf den Beobachter impulsiv und unsystematisch im Denken, oft sogar unlogisch und dumm, da sie nicht selten - des Suchens müde - irgendeine zufällige und damit oft falsche Lösung anbieten.
Diese Darstellung wurde schon vor vielen Jahren von der Entwicklungsneurologin Frau Ruf-Bächtiger aus Basel gewählt. Untersuchungen solcher Wahrnehmungsstörungen gibt es von Affolter, Frostig, Virginia Douglas aus Toronto, Hans Grissemann aus Zürich und anderen mehr. Inzwischen können die Ergebnisse umfangreicher neuro-psycho-physiologischer Forschungen in zahlreichen Arbeiten aus der ganzen Welt.
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