Martin Ohlmeier, Mandy Roy (Hrsg.)
ADHS bei Erwachsenen – ein Leben in Extremen
Ein Praxisbuch für Therapeuten und Betroffene
Autoren: Uwe Blanke, Wolfgang Dillo, Hinderk M. Emrich, Johanna Krause, Klaus-Henning Krause, Martin D. Ohlmeier, Vanessa Prox-Vagedes, Helga Roy, Mandy Roy, Claudia Zigldrum
ISBN-13: 978-3170210684
Verlag: Kohlhammer, 1. Auflage (28. Juni 2012)
Preis: 19,90 €
Herr Ohlmeier hat ein Praxisbuch für Therapeuten und Betroffene geschrieben. Für Therapeuten ist das Buch sicherlich geeignet, weil es die neusten Forschungsergebnisse berücksichtigt und auch sehr gute Quellenangaben ausweist. Aber selbst für professionelle Behandler erweist sich die Detailgenauigkeit der Forschungsergebnisse als anspruchsvoll, und so ist dieses Buch eher denjenigen zu empfehlen, die sich als Fachärzte oder Psychologen profund in die ADHS-Thematik einarbeiten möchten. Für Betroffene ist dieses Buch viel zu wissenschaftlich, denn die Kenntnis der Gehirnanatomie, der Neurophysiologie und der Neurobiochemie gehört nicht zu dem Standardwissen der Leserschaft. Auch die detaillierten neusten Forschungsergebnisse der Genetik inklusive der Genome-wide association studies dürfte selbst eine medizinische Leserschaft sehr fordern. In weiten Teilen des Buches gibt es Überschneidungen zu dem Standardwerk der Drs. Krause ADHS im Erwachsenenalter, wobei deren Buch durch viele anschauliche Fallbeispiele Betroffenen trotz der wissenschaftlichen Ausführungen sicher zugänglicher ist.
Schade ist, dass das Leben in Extremen eigentlich nicht, wie im Titel angedeutet, ausführlich dargestellt wird. Das dichotome Erleben, Fühlen, Entscheiden von Betroffenen, die ständigen Stimmungswechsel, die heftigen Gefühlsausbrüche sind zwar immer wieder beschrieben, jedoch fehlen anschauliche Fallbeispiele, und der Bedeutung für ADHSBetroffene und deren Angehörigen hätte man mehr Raum geben können.
Erfreulich ist das ausführliche Kapitel über ADHS und Autismus, das sowohl in der Forschung, wie auch in der Praxis zunehmend Beachtung findet
Völlig wird der Rahmen für Betroffene verlassen in dem Kapitel: Anthropologisches Konzept der Kreativität. Bei den Ausführungen über Hermeneutik verlässt dieses Buch endgültig den Anspruch ein Praxishandbuch für Betroffene zu sein. Das ist bedauerlich, denn es ist ein interessantes, lesenswertes Kapitel für diejenigen, die sich mit Philosophie, Psychiatrie und Biologie intensiv beschäftigen. Kreativität wird hier als Deutungskunst, als ein Aufspüren von Deutungspotential, als Erschließen von Unerschlossenem und dem Aufklären von Sinngehalt gesehen. Und in den weiteren Ausführungen der Filterproblematik bei ADHS kommt nun für Martin Ohlmeier die entscheidende Pointe der „hermeneutischen Kreativität“ zum Tragen, nämlich die Fähigkeit intelligenter Systeme, sich neue Deutungsmuster quasi selbst zu erschaffen und diese anhand der externen Muster auszuprobieren. Und dann weiter: „Kreativität in der Wahrnehmung kann als schöpferischer interner Prozess bezeichnet werden, in welchem neue Wirklichkeit generiert wird... Die hier angesprochene Konzeptionalisierungsleistung hängt vom Dopamintonus ab. Ohne solche dopamingetriebene Konzeptionalisierungen gibt es keine geordnete Aufmerksamkeit, kein kreatives Verstehen.“
Leider ist es nicht möglich ein Buch auf sehr hohem wissenschaftlichem Niveau zu schreiben und den Anspruch zu haben, Betroffene ebenfalls damit zu informieren. Hier muss man sich entscheiden, welche Lesergruppe man ansprechen möchte, weil sonst Erwartungen geweckt werden, die der Autor nicht einlösen kann.
Gerade bei ADHS-Betroffenen hat man nur eine Chance sie umfassend zu informieren, nämlich sie da abzuholen, wo sie stehen und was sie wissen wollen. Gerade Betroffene brauchen verständliche Informationen und Erkenntnisse, die sie umsetzen können. Leider ist gerade der psychoedukative und psychotherapeutische Ansatz in diesem Buch völlig zu kurz gekommen. Auch hier wird es dem Anspruch als Praxishandbuch nicht gerecht.
Schade, für Spezialisten ein sehr lesenswertes Buch, aber auf keinen Fall Betroffenen zu empfehlen. Schade auch, dass zwar die Ergotherapie und Coaching eine Erwähnung finden, aber nicht die Arbeit der Selbsthilfegruppen.
Dr. Astrid Neuy-Bartmann
neue AKZENTE Nr. 94 1/2013