Für Eltern, Pädagogen und Therapeuten

Anonyma

Plötzlich ein Sorgenkind

Aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie

ISBN: 978-3421045744
Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt, München, 1. Auflage (23. September 2013)
Preis: 19,99 €

Plötzlich ein weiteres Buch zur ADHS
Man spürt und weiß es mit der ersten Zeile von „Plötzlich ein Sorgenkind“, dass die Autorin eine Journalistin ist. „Es gibt schlimme und schreckliche Momente im Leben.“ Ein Beginn, als schriebe Frank McCourt über seine irische Kindheit, nur dass es diesmal nicht um die Asche der Mutter, sondern um den Staub der Mutterschaft geht – Dreck, den man an den Füßen hat, wenn man die Niederungen der Erziehung eines Kindes durchschreitet, einschließlich der niedrigsten Niederungen von Kinderkrippe und Schule sowie der Erniedrigung vor Ärzten und Therapeuten. Nur Journalisten gelingt es dabei, das eigene Selbstmitleid als veritable Selbstkritik zu verkaufen, so dass der Leser am Ende den Eindruck gewinnt, die Erzählerin ging denselben holperigen Weg wie andere, und doch das Gefühl nicht los wird, sie habe sich dabei nicht so schmutzig gemacht wie er selbst.

Worum geht es, wenn die Anonyma „aus dem Leben einer aufmerksamkeitsgestörten Familie berichtet“? Das Buch behandelt in sieben Kapiteln das Leben von „Lenja“ – von der plötzlichen Entdeckung ihres Elends (oder besser gesagt: des mütterlichen Erschreckens darüber, „plötzlich ein Sorgenkind“ zu haben (Kapitel 1), über Diagnosen (Kapitel 2) und Therapien (Kapitel 3) sowie der Abrechnung mit Krippe (Kapitel 4) und Schule (Kapitel 6), Arbeitskollegen und Gesellschaft (Kapitel 5) bis hin zur Auflösung im „risus paschalis“, der Selbsterlösung der Autorin durch ihr Bekenntnis zu „Katastrophenalltag und Kicheralarm“ (Kapitel 7).

Es hat alles, was ein Buch über Kinder heute braucht: eine hochbegabte Schulversagerin, Kritik am Gesundheitssystem, Kritik am Schulsystem, Kritik am Gesellschaftsystem, Kritik an der Pathologisierung von Kindern, Kritik an der Therapie von Kindern, Kritik an der medikamentösen Behandlung von Kindern, Professor Hüther und Professor Türcke und einen Münchner Professor der Kinder- und Jugendpsychiatrie (der namentlich nicht genannt wird, doch über die zitierte Passage einer Veröffentlichung leicht zu identifizieren ist). Sogar die ADHS-Selbsthilfe kommt vor: „Zweifelsfrei belegen ließe sich nur die Wirksamkeit von Ritalin – das zumindest beim Selbsthilfeverband ADHS einen guten Ruf zu haben schien.“

Was das Buch nicht auszeichnet, ist ehrliche Selbstreflexion. „Plötzlich ein Sorgenkind“ ist weder „schonungslos“ noch „humorvoll“, wie der Klappentext glauben machen soll, sondern einseitig, anklagend, stellenweise kenntnislos abwertend, verbittert. Es ist ein langes vorsorgliches Entschuldigungsschreiben an die Tochter, sollte die eines Jugend- oder Erwachsenentages Rechenschaft einfordern für die vermurkste Kindheit, einschließlich zweier in direkter Anrede formulierter Briefe an die „liebe“ und „liebste“ Lenja. (Zwei weitere Briefe gehen an Prof. Hüther und Herrn Meyer, dem ersten ein Dankesschreiben für seine eingängigen Spekulationen zur Neurobiologie, dem zweiten eine Anklageschrift, weil er sich für die wilden Kerle engagiert und nicht für die verträumten Mädels.) Am Ende ist Lenja auf einer weiterführenden (Privat-)Schule, die sich dem „Kampf gegen Mobbing verschrieben hat“, mit guten Noten sowie einer neuen Lust auf Unterricht. Und wenn, so die Autorin, „ich doch wieder in alte Muster zurückfalle und Befehle bellend neben ihrem Schreibtisch stehe, dann schaut sie mich über ihre Brille hinweg an und sagt: Chill dein Leben, Mama.“ Hakuna Matata!

Oh je, ist die Welt doch schlecht, mein Kind, abgesehen von jenen Stellen, die ich Dir recht hübsch auserwählt und zubereitet habe. Und dennoch stehen nicht nur Leid und Lug in diesem Buch, sondern durchaus einige bemerkenswerte Ausführungen. Zum chaotischen Unterrichtsalltag in den Schulen von heute etwa, einschließlich einer melancholischen Reminiszenz an die eigene Schulzeit: „Die konzentrierte Stille beim heute so verpönten Frontalunterricht habe ich genossen, meine Lehrerin vergöttert.“ (S.139f.). Auch das Koryphäen-Unwesen wird zurecht angeprangert – ein Professor, der keine Patienten mehr sieht, aber mit Chefarztaufschlag die Testergebnisse seiner ausgebeuteten Assistenzarzt- und Psychologie-Lakaien referiert. Selbst die Kritik am bisweilen leichtfertigen Umgang mit der AD(H)S -Diagnose ist nicht ganz von der Hand zu weisen, obgleich sichtbar wird, dass die Autorin über Hüther und Türcke hinaus wenig gelesen und kaum etwas von der ADHS verstanden hat. Den Psychologen, Neurologen, Soziologen und Philosophen macht sie den Vorwurf, es ginge „ihnen weniger um eine Lösung im Sinne der Kinder als vielmehr um ihren theoretischen Claim an der populärsten Diagnose seit Jahrzehnten“ (S.67), was leider ebenfalls zutrifft, allerdings geflissentlich vergisst, die Journalisten miteinzuschließen.

Ärgerlich sind die eigentlichen Aussagen zur ADHS, die zumeist schlicht falsch sind. Dabei zitiert die Anonyma so ziemlich jede populäre Polemik ihrer journalistischen Berufskollegen, sei es die soziale Verursachung der Störung oder die persönlichkeitsverändernde Wirkung der „Droge“ Ritalin (S.64), seien es die neuen Diagnosekriterien des DSM-5 (S.213) oder die Resultate des Barmer GEK-Arztreports von 2013 (S.63f.). „Mit der Pille nimmt man den Kleinen das Wesentliche ihrer Kindheit“, lässt sie Herrn Hüther sprechen (S.62), dem sie 25 Seiten später einen panegyrischen Brief schreibt, ohne sich mit der naiven Schlichtheit seiner Thesen auseinanderzusetzen, die weder neu noch repräsentativ sind. Vielmehr genießt sie den masochistischen Schmerz, ihr Kind verunsichert und geängstigt sowie seine Bedürfnisse übersehen zu haben – Traumata, welche in unwissenschaftlicher Verkürzung der komplexen Neurobiologie des menschlichen Gehirns angeblich die Aufmerksamkeitsstörung bedingten. Davon ist jedoch keine Rede mehr, als die Autorin gegen Ende des Buchs – „Wie die Mutter, so das Kind“ (S.208f.) – über ihre eigene Kindheit sinniert, die unter ganz anderen Umständen ein der Tochter so sehr ähnliches Kind zeitigte. Vielleicht ist die proklamierte Autorschaft der „Anonyma“ vor diesem Hintergrund ja ein Akt forcierter Ehrlichkeit, denn das Buch ist weniger die Lebensgeschichte einer Familie als vielmehr eine politische Thesensammlung zur Lage der „Ritalin-Nation“ (Richard DeGrandpre).

Dennoch kann die Lektüre von „Plötzlich ein Sorgenkind“ ein Gewinn sein. Erkennt man die Unehrlichkeit der Selbstanklage, als karrieregeile Eltern ein aufmerksamkeitsdepriviertes Kind geschaffen zu haben, gibt es am Ende des Tages einen Zaunpfahl mehr, der den Weg weist: Demut nicht nur angesichts der persönlichen Erziehungsleistung, sondern auch der Ansprüche an die Gesellschaft. Hinzu kommt die berechtigte Freude vieler Eltern von ADHS-Kindern darüber, dass sie manches in der frühen Kindheit ihres Nachwuchses weitaus besser gemacht haben als die Anonyma und ihr noch anonymerer Mann. Dass die eigenen Kinder dennoch AD(H)S haben, muss niemandem leid tun, ist es doch nutzloses Selbstmitleid, nicht anders, als wäre das Kind blind, taub, litte an Diabetes oder Leukämie. Schließlich bleibt die Erkenntnis, dass Bücher wie „Plötzlich ein Sorgenkind“ in den Feuilletons der Kollegen ein kurzes Rauschen verursachen, dem ein Alltag vorangeht und folgt, in dem sich Diagnose und Therapie der ADHS weltweit etablierten – nicht der Pharmafirmen, der Ärzte- und Therapeutenlobby wegen, sondern, weil es bislang keine bessere Antwort auf die Lebensbedingungen der ADHS-Betroffenen in dieser Gesellschaft und Zeit gibt. Das ist alles andere als gut, doch kam es weder plötzlich noch muss es uns stets Sorgen machen.

„Ich arbeite an meiner eigenen Vervollkommnung und weniger an meinem Erfolg“, heißt es gegen Ende des Buchs (S.228). Ich hingegen arbeite an meinem Erfolg und weniger an meiner eigenen Vervollkommnung. Für letzteres hätten Familie und Freunde wenig Verständnis, erscheint ihnen doch kaum jemand weiter von diesem Ziel entfernt als ich. Sie und ich würden das Streben nach dem „summum bonum“, wie die Philosophiegeschichte das höchste Gut nennt, als Anmaßung empfinden, an der ich nur scheitern kann. Doch es erfüllt mich mit Stolz, dass ich meist Freude an der Schule hatte, dass ich studiert habe und in einem Beruf arbeite, der mir Spaß macht. Und ich liebe den Erfolg, der damit verbunden ist, vom Tag der ersten Schulnote an bis zu jedem heute selbst verdienten Euro. Laufe ich Gefahr, übermütig zu werden, denke ich dankbar an meine Eltern und Lehrer, die bisweilen wenig pädagogisch und therapeutisch wertvoll waren, aber kompromisslos zuversichtlich, dass aus jedem irgendwann irgendwas Gescheites wird.
Et voilà!

Dr. Johannes Streif

neue AKZENTE Nr. 96 3/2013

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