Michael Winterhoff
Warum unsere Kinder Tyrannen werden
Oder: Die Abschaffung der Kindheit
Gütersloher Verlagshaus, ISBN: 978-3579069807
191 Seiten, 17,95 €
Bald ein Jahr nach dem Erscheinen eines Buches eine Rezension zu schreiben, ist stets eine Mischung aus Respekt und Nötigung. Respekt, da die Auflage von Winterhoffs Buch inzwischen in die Hunderttausende geht, der Autor dauerpräsent in den Medien ist und mit „Tyrannen müssen nicht sein“ das Nachfolgewerk bereits den Buchhandel erreicht hat. Nötigung aber aus demselben Grund, denn letztlich kann nicht unwidersprochen bleiben, was Winterhoff an Unsinn über Kinder, ihre Entwicklung und die Gesellschaft, in der wir leben, schreibt.
Peinlich ist schon der Titel, der in raffinierter und zugleich offenbar nur bedingt reflektierter Weise auf drei erfolgreiche Bücher der letzten Jahrzehnte anspielt: Jirina Prekops „Der kleine Tyrann“ aus den 1980er Jahren, das die Kritik an einer Erziehung ohne Grenzsetzung mit dem therapeutischen Konzept der Festhaltetherapie verband; Philippe Ariès „Die Entdeckung der Kindheit“, das 1960 im Original erschienene, soziologisch fundierte Gegenstück zu Winterhoffs psychoanalytischer Deklaration einer Endzeit von Kindheit; und Peter Høegs „Plan von der Abschaffung des Dunkels“ aus den Jahren vor der Jahrtausendwende, eine literarische Abrechnung mit der Idee, durch bessere Erziehung bessere Menschen schaffen zu können.
Am nächsten kommt Winterhoff den Ansichten Prekops. Beide verbindet, auf unterschiedlicher ideologischer Grundlage, die verzweifelt anmutende Annahme, dass unerzogene Kinder zu kleinen Monstern mutieren, deren Ziel die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung in einer ihnen vermeintlich zu handenen Welt ist. Prekop ist dabei – ungeachtet der verheerenden Auswirkungen der Festhaltetherapie in der Behandlung von Autisten in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – zugute zu halten, dass sie an die Kraft der Liebe glaubte, die dem Guten selbst durch die Mauern der psychischen Störung Bahn brechen sollte. Winterhoff hingegen glaubt allenfalls an die Angst vor dem Hass, den unsere Gesellschaft den unerzogenen Kindern eines nahen Tages nur mehr entgegen bringen werde. Seine tiefenpsychologisch gefärbte simple Lehre von der Psyche als Summe von Funktionen und Weltbildern reduziert das Leben auf eine Ansammlung sozial überformter individueller Triebe, in der das kindliche Lernen von der pädagogischen Absicht der Erwachsenen abhängt. Kinder sind in diesem Konzept so gut wie das Funktionieren der „Nervenzelle Mensch“, die das soziale Wissen und Gewissen ausnahmslos zu repräsentieren scheint. Und so schlecht wie die sie erziehenden Erwachsenen, die sich in ihnen zu verwirklichen suchen.
Hat man die 191 Seiten des Buches gelesen, das laut Autor kein Erziehungsratgeber sein möchte, so weiß man kaum, welcher der zahllosen Hinweise zu Erziehung den ersten und heftigsten Widerspruch verdient. Obgleich Winterhoff in seiner dilettantischen Terminologie in zigfacher Wiederholung die Phrase der „Bildung psychischer Funktionen“ an die Stelle des sozial erworbenen Anstands – von der Vorrede „Zwischen Super-Mamas und Erziehungsnotstand“ bis zum letzten Kapitel „Wo wir hinkommen müssen“ ist das Werk ein einziges pseudowissenschaftlich verbrämtes Lamentieren über das erzieherische Versagen von Eltern, Lehrern und Erziehern. 23 Fallbeispiele, mal graphisch abgesetzt und mal nicht, präsentieren Kinder in unbewusst-dreister Grenzüberschreitung und die mit ihnen befassten Erwachsenen als verkopfte, bemüht-hilflose Verlierer.
„Permissive Erziehung“ nennt dies die Pädagogik seit Jahrzehnten, doch Winterhoff will das nicht wissen und auch nicht an diese Begrifflichkeit anschließen. Vielmehr konstruiert er unter tiefenpsychologischer Beugung der Begriffe „Partnerschaftlichkeit“, „Projektion“ und „Symbiose“ holzschnittartige Beziehungsmuster meist zwischen Mutter und Kind, welche den Verzicht auf Anleitung, Vorbild und Autorität in quälend abstrakter Weise erklären. Die erzieherische Bequemlichkeit der Eltern erscheint so durch ein Verkennen des Kindseins motiviert, die Verleugnung der gesellschaftlichen Realität in einem narzisstischen Wunsch von Müttern und Vätern nach Liebe begründet, die Gleichgültigkeit gegenüber der Mitwelt als Folge einer masochistisch anmutenden ungenügenden Differenzierung zwischen dem elterlichen und dem kindlichen Ich. Aus der Mischung von irrer Perspektive mit abstrusem Vokabular entstehen schließlich Sätze wie der folgende über Eltern, die sich nicht an dem auf ihnen herumturnenden Kind stören: „Sie verarbeiten in diesem Moment das Kind als Eigenimpuls, klettern also im weitesten Sinne selbst auf sich rauf und runter und empfinden es daher nicht als unangemessen.“ Wie war das?
Fragwürdig sind bei Winterhoff nicht die sozialen Werte, die er vertritt, sondern seine Ansichten zur Entwicklungspsychologie. Daher wird man seinen Ausführungen nicht gerecht, stellt man ihn mit Buebs „Lob der Disziplin“ in die Ecke einer neuen Autoritätsgläubigkeit. Die krude psychoanalytische Lehre von „oraler, analer und magisch-ödipaler Phase“ ist die Basis sowohl psychologisch als auch neurologisch falscher Grundannahmen und Schlussfolgerungen. Dazwischen liegen weite Bereiche einer konditionierten Wahrnehmung, die stets ein wenig an die berühmte Hegel-Anekdote erinnert, als der Philosoph während einer Vorlesung mit dem Einwurf konfrontiert wurde, seine Sichtweise entspräche nicht der Realität. „Desto schlimmer für die Wirklichkeit!“, soll Hegel ausgerufen haben. Freud und seine Nachfolger sind mittlerweile sogar einen Schritt weiter. Sie verurteilen nicht nur die Welt dafür, dass diese ihrer Ideologie nicht genügt, sondern auch die Mitmenschen für deren Widerstand gegen die eigene Einsicht. Winterhoffs Beispiel der Mutter, die in einer Buchhandlung nach einem „einfacheren“ Mathebuch für die vierte Grundschulklasse fragte, liest sich wie ein Verdikt über die Leser seines eigenen Werkes: Wer ihm nicht folgt, ist nur zu verblendet, zu involviert oder aber schlicht zu träge, ihn zu verstehen.
Was aber gibt es angesichts der von Winterhoff proklamierten gesellschaftsweiten Angst vor den tyrannischen Kindern zu begreifen? Wo sind die wissenschaftlichen Untersuchungen, die das postulierte Verkümmern der motorischen Fähigkeiten von Kindern belegen, wo die Befunde für eine wachsende Zahl fundamentaler Wahrnehmungsstörungen?! Es sind Winterhoffs Patienten, welche die Computer-Maus oder den Kontroller der Spielkonsole, den Touchscreen des neuen Mobiltelefons und den „Jog-Dial“ des Auto-Bordcomputers schneller bedienen können als ihr akademisch gebildeter Arzt! Warum schneidet Kohorte um Kohorte von Jugendlichen immer besser in den etablierten Intelligenztests ab, wenn doch eine mal um mal gewaltiger beschworene Masse an Schülern weder richtig lesen noch schreiben noch rechnen kann?! Ich kenne auch keine Zahlen, die nahelegen, dass Kleinkinder heute länger als noch vor einer Generation in Bett und Windeln machen, wohl aber eine wachsende Phalanx an Pädagogen, Soziologen und Politikern, welche die positiven Seiten früher Krippenerziehung in unkritischem Euphemismus über die Förderung von Kindern in der Familie stellen.
Die meisten Kinder wissen und können heute viel mehr als Gleichaltrige vor dreißig Jahren, aber sie haben in Schule und Freizeit, vor Fernseher und Computer ein schier unüberblickbares Sammelsurium an partikularisiertem Wissen und nutzlose Ortskenntnisse in virtuellen Welten erworben. Sie verfügen entsprechend der bekannten Normalverteilung intellektueller Begabung über eine im Mittel hochdifferenzierte Sprache, die allerdings nicht mehr von Erich Kästner und Thomas Mann, sondern durch Hogwarts und Internet geprägt wurde. Deutsche Kinder können, wie eine wissenschaftliche Studie vor einigen Jahren aufzeigte, mehr Pokémon-Monster als Tiere unterscheiden, – bzw. konnten, denn der Zenith der hässlichen Zeichentrickfiguren ist, Gott sei Dank, überschritten, während „Emil und die Detektive“ wie auch der „Zauberberg“ noch heute viele Leser finden. Die Lehrpläne unserer Kindergärten und Schulen sind voll von theoretischem Lernstoff und künstlicher Erziehung, aber zunehmend leerer an Musik, Handwerk und Bewegung, welche zentrale Voraussetzungen für Selbststeuerung und ein reales Begreifen der Welt sind. Wir bringen den Kindern das Wählen bei, bevor sie den Wahlzettel lesen können, die Nutzung des Computers vor dem Schreiben, das Funktionieren der Börse vor der Kulturtechnik des Rechnens. Wen wundert es, dass der Nachwuchs am Anfang von Ausbildung, Studium und Beruf auf selbstverantwortliches Lernen und Leisten schlecht vorbereitet ist?
Wer mag angesichts der Ausführungen Winterhoffs ein weiteres Mal in das altgediente Horn des Früher-Besser stoßen? Es ist im Letzten weder zu bestätigen noch zu widerlegen, denn so vieles war früher so anders. Sollte uns allen wie auch dem Autor nicht offensichtlich sein, dass jeder Zeit und Gesellschaft ihre eigene Erziehung frommt?! Der altertümliche Begriff des „Frommen“ ist hier ganz bewusst gewählt, denn die Kunst des Erziehens ist Glaube und Tradition, Überzeugung und Vermittlung von Werten, soziale Erwartung auf Grundlage einer gemeinsamen Geschichte. Winterhoffs Fallbeispiele können in diesem Sinne die Furcht vor einer Gesellschaft unerzogener Egomanen begründen, nicht aber die Angst vor einem „selbst generierten Crash-Test“ oder dem „Verlust einer ganzen Generation“. 35 und mehr Wochenstunden Schulunterricht, zwei Stunden Hausaufgaben täglich, dazu lange Zeiten an Maschinen und vor Monitoren, die frühe unbedingte Gruppengewöhnung in Krippe und Hort, pädagogische Programme und therapeutische Maßnahmen bis zum Überdruss sind eine exzellente Vorbereitung der meisten Kinder und Jugendlichen auf ihre Funktion in der postindustriellen Gesellschaft von Morgen.
Freilich macht all dies keine guten Bauern und Handwerker, keine empathischen Krankenschwestern und vertrauensvollen Priester, doch das fordern weder Winterhoff noch seine Kritiker. Wenig tut in unserer Gesellschaft mehr Not als Rücksichtnahme und soziale Verantwortung, doch das ist weder Aufgabe und Nutzen des Einzelnen noch eine praktische Notwendigkeit gesellschaftlichen Überlebens. Die von Winterhoff geforderte erzieherische Einstellung mag vor rechthaberischen Kollegen und aufdringlichen Nachbarn schützen – und das ist schon sehr viel! –, nicht aber vor gewissenlosen Spekulanten und unbarmherzigen Bürokraten, welche nachgerade durch ihre soziale Anpassung ihre zerstörerische Macht erreichten. Was unsere Zeit jedoch mehr als alles andere schmerzlich vermissen lässt, ist die Leidenschaft der nächsten Generation, etwas zu wollen, das größer und besser, schöner und gerechter ist, als was wir ihnen hinterlassen: Den Willen, ihr Wissen und Können, Maschinen und künstliche Intelligenz, Zeit und Wohlstand zu etwas Sinnvollerem zu verwenden als anspruchslose Unterhaltung und die Flucht in virtuelle Welten. Was der Philosoph Leibnitz vor 300 Jahren bereits begriffen hatte, ist dem Psychiater Winterhoff offenbar unzugänglich: Das hier ist die beste aller Welten – sie ist es wert, dass man sich mit ihr auseinandersetzt, dass wir ihren Kindern vertrauen und sie zur Liebe erziehen!
© Dr. Johannes Streif
neue Akzente | Nr. 81 | 1/2009