Vorsicht Bildschirm
Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft
Manfred Spitzer
dtv, 2006
ISBN-10: 3423343273
ISBN-13: 978-3423343275
Preis: € 9,50
Dieses Buch geht uns alle an! Der Psychiater und Gehirnforscher Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer (Jahrgang 1958) hat die Forschung zum Gebrauch von Bildschirmmedien zusammengefasst und bewertet. Das Ergebnis, jetzt aktuell im preiswerten Taschenbuch nachzulesen, ist aufstörend: »Allein durch den Fernsehkonsum von Kindern und Jugendlichen werden im Jahr 2020 in Deutschland etwa 20.000 Menschen an den Folgen von Übergewicht sterben« (S. 48 f.). Das ist eine Nebenwirkung, die rund viermal so tödlich ist wie die Teilnahme am Straßenverkehr, und es ist nicht die einzige! So bedeutet Bildschirmkonsum für kleine Kinder die Entwicklung von Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörungen und: »TV im Vorschulalter führt zu schlechteren Leistungen im Lesen und Schreiben in der Schule« (S. 153). Auch die Leistungsfähigkeit älterer Schülerinnen und Schüler wird durch ein hohes Maß an Bildschirmkonsum beeinträchtigt. Außerdem führt viel TV bei ihnen zu schlechteren Beziehungen zu den Eltern, macht sie einsam und begünstigt Depressionen. Und schließlich steigert die Gewalt im Fernsehen (besonders Zeichentrickfilme und Reality-TV) sowohl die Gewaltbereitschaft als auch die konkrete Gewalttätigkeit unserer Kinder und Jugendlichen. Das gilt ebenfalls für Video-, Computer- und Konsolenspiele.
Spitzer stellt seinen Lesern keineswegs ein Horrorszenario mit abwegigen Thesen vor. Er führt lediglich wissenschaftliche Forschungsbefunde zusammen, die in dieser Kompaktheit noch nirgendwo allgemein verständlich dargestellt wurden. Als Mediziner und Neurobiologe bewertet er sie mit der gebotenen Konsequenz und Klarheit hinsichtlich gesundheitlicher und Entwicklungsrisiken. Ihm ist bewusst, dass es vielen Menschen schwer fallen muss, seinen Schlussfolgerungen unmittelbar zuzustimmen. Darum führt er alle Argumente ausführlich aus, erläutert die Methoden der zitierten Untersuchungen und veranschaulicht ihre Ergebnisse nachvollziehbar. Gründlich setzt er sich mit den Gegenpositionen auseinander (und widerlegt sie eindeutig!), die negativen Befunde verharmlosen und positive Auswirkungen von Bildschirmmedien oder gar eine Aggressionsabfuhr durch Gewaltdarstellungen in den Medien (Katharsis-Hypothese) behaupten. Dabei entlarvt er die medienfreundlich verharmlosende bis bewusst falsche Berichterstattung über Wirkungen von Bildschirmmedien in Zeitschriften und vereinzelten Büchern als unseriöse, interessen- und gewinnorientierte Einseitigkeit.
Bei aller deutlichen und manchmal plump-drastisch formulierten Kritik («Elektronische Bildschirm-Medien - Fernsehen und Computer - machen dumm, dick und gewalttätig« - S. 245) ist der Grundtenor des Buches differenziert und konstruktiv. Spitzer wiederholt immer wieder, dass die schädlichen Nebenwirkungen von TV und Computer dosisabhängig sind. Er vergleicht sie mit der Umweltverschmutzung, die vor 30 Jahren (als Nebenwirkung des wirtschaftlichen Fortschritts) auch kaum jemand wahr haben wollte - außer wenigen »radikalen Weltverbesserern«. Heute haben wir eine bessere Luft zum Atmen und Flüsse, in denen man wieder baden und fischen kann - Umweltschutz ist zu einem allgemeinen Anliegen worden. Entsprechend schlägt der Autor ein vergleichbares Vorgehen vor: Zum einen kann jeder individuell etwas tun, z. B. durch rigoros kontrollierten und begrenzten Konsum von Bildschirm-Medien der eigenen Kinder. Staatlicherseits müssten die öffentlich-rechtlichen TV-Programme über höhere Gebühren in die Lage versetzt werden, ein qualitiativ gutes Programm anzubieten, denn die Forschung zeigt auch, dass prosoziales Verhaltem im Fernsehen sich positiv auf Zuschauer auswirkt. Gleichzeitig sollten gewalthaltige Sendeinhalte mit Abgaben belegt werden, so dass die Werbung zu ihrer Finanzierung teurer werden müsste. Das würde die Werbewirtschaft zur Bevorzugung positiver Sendungen veranlassen und damit die kommerziellen Sender zwingen, sich dem Ternd zu mehr Qualität bei den Öffentlich-Rechtlichen anzupassen. Und schließlich müsste es rechtliche Möglichkeiten geben, die Verantwortlichen für die Ausstrahlung von gewalthaltigen Filmen haftbar zu machen, wenn Nachahmerverbrechen im Gefolge einer Sendung Schadensersatzforderungen rechtfertigen.
Dass Spitzers »Vorsicht Bildschirm!« nach der Erstveröffentlichung 2005 nur ein Jahr später als preiswertes Taschenbuch vorliegt, ist eine großartige Chance für eine rasche Verbreitung seiner existenziell wichtigen Einsichten. Es kann die Diskussion an Elternabenden in Kindergärten und Schulen beleben wie auch politischen Handlungsdruck erzeugen. Medienkritik aus pädagogischer und soziologischer Sicht gibt es zwar schon lange, doch erst die radikale (= an der Wurzel ansetzende) neurobiologisch-medizinische Perspektive macht klar, dass es höchste Zeit ist zu handeln. Die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der heutigen Kindergeneration stehen auf dem Spiel - und damit das Wohl der künftigen Gesellschaft: »Unsere Zukunft liegt in ökonomischer und sozialer Hinsicht in den Gehirnen der nächsten Generation« (S. 284). Nebenwirkungen von Bildschirmmedien sind statistisch vielfach höher als beispielsweise das Kohlkopfkrebs-Risiko bei Asbestbelastung. Asbestbelastete Gebäude sanieren wir - wann sanieren wir die Bildschirm-Medien?
Detlef Träbert
aus die AKZENTE Nr. 73 - 2006