Michael Winterhoff:
„Tyrannen müssen nicht sein.
Warum Erziehung allein nicht reicht - Auswege.“
ISBN-13: 978-3579068992
Gütersloher Verlagshaus
Preis: 17,95 Euro
Vor rund einem Jahr habe ich an dieser Stelle Winterhoffs Erstlingswerk „Warum unsere Kinder zu Tyrannen werden“ rezensiert. Es hat bis dato über 200 Kundenbesprechungen auf Amazons Homepage erfahren und ist zu einem Beststeller unter den Erziehungsratgebern des letzten Jahrzehnts geworden. Halt: Es wollte ja kein Erziehungsratgeber sein! Auch Band 2 der Winterhoff’schen Kinderanalyse sperrt sich im Untertitel gegen die Gleichsetzung mit anderen laienpädagogischen Publikationen. Immerhin ist sein Bekenntnis zur Belehrung offenkundig geworden, verspricht der Autor doch „Auswege“ aus dem selbstgeschaffenen Dilemma, dass Erziehung nicht gegen die Folgen ungenügender Erziehung helfen soll.
Um es vorweg zu nehmen: „Tyrannen müssen nicht sein“ ist besser als sein Vorgänger. Vielleicht hat die Grundhaltung, im zweiten Anlauf ein Heilmittel gegen den tödlichen Kulturpessimismus der ersten Schöpfung anzubieten, den Autor toleranter gemacht – ein bisschen menschenfreundlicher und optimistischer. Vielleicht auch haben Lektor und Verlag die historisch erprobte Strategie umgesetzt, dem Weltuntergangsszenario einen widerwilligen Propheten nachfolgen zu lassen, der desto glaubhafter erscheinen muss, weil er sich ein bisschen ziert. Immerhin kann man nun einigen Passagen insoweit folgen, als Erziehung veränderlich und die psychosoziale Entwicklung von Kindern gestaltbar ist. Noch immer spricht Winterhoff allerdings von „psychischer Reife“, als ob das individuelle Selbstverständnis wie Bananen in der Ethylenkammer unserer Gesellschaft alterte. Aber er nennt nun wenigstens einige zentrale Aspekte einer günstigen Erziehungshaltung, zum Beispiel „dass das Kind die Reaktionen der Eltern auf dem Boden der Beziehung Vater-Kind oder Mutter-Kind mit Affekt begleitet erlebt“ (S.26), wenngleich ohne Verweis auf prominente Autoren wie John Gottman, der über das „Emotion Coaching“ bereits umfangreich forschte und publizierte.
Ein Hauptmangel auch des zweiten Werks bleibt, dass Winterhoff allenfalls über marginales Wissen in der Entwicklungspsychologie verfügt und daher reihenweise falsche Aussagen insbesondere zur frühkindlichen Entwicklung macht. Nichteinmal Piaget hätte ernsthaft behauptet, dass das Schreien die einzige Ausdrucksform eines Säuglings bis zum Alter von zehn Monaten sei (vgl. S.30). Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien der letzten einhundert Jahre befasste sich mit dem differenzierten Entstehen eines individuellen Selbstverständnisses des Kindes, mit dem es sich von seiner Umgebung zu unterscheiden lernt, doch Winterhoff behauptet, das Kind würde „bis etwa zum Alter von zweieinhalb Jahren in einer Phase verbleiben, in der es respektlos gegenüber seiner menschlichen Umwelt ist, da es sich alleine auf der Welt wähnt“ (S.31). Dreijährige gehen für Mama aufs Klo und Fünfjährige werfen nur für Papa den Müll in die Tonne – der Autor hat doch laut Klappentext selbst zwei Kinder, scheinbar aber jeden Blick ins Kinderzimmer vermieden, wo bereits Kleinkinder den Dingen um sie herum eine eigene Ordnung geben.
Ein humoristisches Bonbon für alle Eltern nicht-autistischer Kinder: „Etwa ab dem 14. Lebensjahr ist es Jugendlichen möglich, Fehler und Schwachpunkte bei anderen Menschen zu erkennen. Sie merken jetzt genau, wann Mitschüler, Freunde oder Lehrer sich falsch verhalten. Ab 15 gilt das ebenfalls im Bezug auf die eigenen Eltern, und erst mit 16 Jahren erkennt der Jugendliche diese Fehler auch bei sich selbst.“ (S.35) Nun wird Ihnen als Eltern, Lehrern und Erziehern endlich offenbar, warum der Sechsjährige trotz ihrer Erziehungsbemühungen überzufällig häufig die Öffentlichkeit des Supermarktes für Wutanfälle nutzt, der Achtjährige sich über den stotternden Klassenkameraden lustig macht und die Zehnjährige die Ursache allen Streits im Hort auf den bösen Kevin mit der ADHS-Diagnose schiebt: Weil die armen Kinderchen es nicht besser wissen! Winterhoff hat damit zugleich für die Anhebung der Strafmündigkeit auf 16 Jahre votiert, denn ist es nicht unrecht, einen Menschen für sein Handeln zu verurteilen, der die eigenen Fehler nicht zu erkennen vermag?!
Ähnlich verwegen sind seine Ausführungen zum „Kindheitsbegriff im Wandel der Zeiten“ (S.36ff.). Ausführlich zitiert er Philippe Ariès, auf dessen Hauptwerk „L‘Enfant et la vie familiale sous l‘Ancien Régime“ – im Deutschen großzügig als „Geschichte der Kindheit“ übersetzt – der Titel von Winterhoffs erstem Buch anspielt. Dass sich in den 50 Jahren seit Erscheinen von Ariès philologischer Studie eine Armada von Soziologen und Historikern mit den vielfach sozialgeschichtlich nicht haltbaren Aussagen auseinandersetzte bzw. diese akzentuierte, ging an Winterhoff vorbei. Alle Gesellschaften hatten und haben einen funktionalen Begriff von Kindheit, der das Kindsein nach Bedarf ausweitet oder einengt. Lügen wir uns nicht in die eigene Tasche: Es sind ja nicht die Kinder und Jugendlichen selbst, welche Themen wie PISA-Studie und Lehrstellenmangel, Erziehungsnotstand und Jugendkriminalität auf die Tagesordnung der politischen wie auch medialen Verwertung bringen! Da ist es fast schon rührend, wie naiv Winterhoff schreibt: „Eben deshalb sehe ich hinsichtlich des Kindheitsbegriffes einen erheblichen Reflexionsbedarf, da dieser emotionale Missbrauch von der Gesellschaft ja nicht bewusst gewollt ist.“ (S.41) Für diese Pauschalabsolution bedanken sich die Marketingexperten zahlloser Interessengruppen, die mit tausend verschiedenen Klischees von Kindheit nicht nur Bildungsund Gesundheitspolitik, sondern v.a. auch blendende Geschäfte machen.
Mit Befriedigung liest man hingegen folgende Sätze: „Der Schutzraum, den Kinder früher dadurch hatten, dass Eltern ihnen Entscheidungen abnahmen, die sie noch nicht treffen können, weil sie deren Tragweite nicht überblicken, ist vollkommen verloren gegangen.“ (S.55) Sind auch Winterhoffs Beispiele und deren Analyse im Folgenden teilweise fragwürdig, so bleibt doch die richtige Beobachtung, dass eine neue Generation von Eltern ihrem Nachwuchs vom ersten Mehrwortsatz an die Welt erklärt und auf ein immer früheres Weltverständnis der Kleinen hofft. „Nicht die Ampel ist gefährlich, sondern der Straßenverkehr!“ – und für die Kinder zählt künftig allein die Gefahr, die sie kennen und erkennen können, nicht aber die Grenze, die ihnen soziale Warnsysteme zum eigenen Schutz setzen. Winterhoff ist nicht der Einzige, der zu Recht die Ausdehnung des psychologischen Persönlichkeitsbegriffs auf die pure Existenz des Menschlichen beklagt, als ob Neugeborene sich bewusst sozial vernetzten und in der Gemeinschaft präsentierten. Auf dieser Grundlage glauben mittlerweile Millionen von Eltern in Europa und den USA, ihr Kleinkind sei hochbegabt und willensstark, obschon es ihm an sozialer Einsicht, Verhaltenskontrolle und Anpassungsfähigkeit mangelt.
Sind wir ehrlich: Mit der Bewunderung für das Kind an sich ist bei vielen Eltern und Pädagogen leider auch große erzieherische Unentschlossenheit und Feigheit verbunden. Winterhoffs Kritik an der falschen Partnerschaft zwischen Erwachsenen und Kindern bekommt in „Tyrannen müssen nicht sein“ endlich Fleisch und Zähne – Beispiele und ihre gesellschaftliche Einordnung, welche die Absurdität einer darauf gründenden Erziehung offenbaren. Was der Autor im Kontext der Schule als ein Abschieben der Verantwortung anprangert (vgl. S.64), ist eine Krux unseres Bildungs- und Jugendhilfesystems geworden: Eine Armee an Pädagogen, die seelenruhig mit Kindern über das Messer spricht, in das sie die großen Kleinen und kleinen Großen später laufen lassen. In Schule, Hort und Therapie gehen Kinder quasi Verträge ein, wie sie sich zu verhalten haben, anstatt eine gute Entwicklung auch schwieriger Kinder durch bindende Strukturen und einen festen Rahmen abzusichern. Jenseits von Pausenhofschneeballwurfverordnung und Hilfeplanzielvereinbarung aber lauern Ausgrenzung und Pathologisierung des Kindes.
Das betrifft nicht zuletzt die ADHS-Kinder. Winterhoff schneidet das Thema mehrfach am Rande an, überwiegend im Kontext von Schule. Auf Seite 87 bezeichnet er die Diagnose als „schwer zu greifen“. 30 Seiten früher schreibt er zum unterschiedlichen Temperament von Kindern: „Wir haben es hier vielmehr mit charakterlichen Eigenschaften zu tun, und zwar angeborenen und vererbten Verhaltensweisen, die kaum zu beeinflussen und daher für mich als Kinderpsychiater eher von nachrangigem Interesse sind.“ (S.57) Das erstaunt den Fachmann und verwirrt den Laien, dachte man doch bisher, dass die Psychiatrie als ein Feld der Medizin nachgerade um die Verbindung des Körperlichen mit dem Geistigen, des Physischen mit dem Psychischen bemüht sei. Entsprechend mager ist sein Beitrag zur Therapie von Verhaltensstörungen: Würden die Eltern ihre Kinder nicht als ein Teil ihrer selbst, Lehrer und Erzieher sie nicht als Partner begreifen, so wären alle gesund und glücklich. „Auswege“, wie dem Untertitel des Buches euphemistisch angefügt wurde, sind da keine erkennbar!
Am krudesten ist das Kapitel 4 „Wohin führt der Weg? Entwicklungsperspektiven unserer Gesellschaft unter dem Vorzeichen fehlender Psycheentwicklung“ (S.107ff.). Es ist die eigentliche Fortsetzung der Tyrannen-Prophetie des Erstlingswerkes und leidet unter derselben fragwürdigen Begrifflichkeit, die wie ein tiefenpsychologisches „Second Life“ neben der Realität aufscheint – ein Globus, an dem die Welt erklärt wird und Fallbeispiele wie die Beschreibung von Modelllandschaften anmuten. Dabei spricht Winterhoff die eine und andere Wahrheit lapidar aus, für welche manch Pädagoge zu anderer Zeit heftig kritisiert worden wäre: „Das Fehlen einer funktionierenden Gewissensinstanz ist für das gesellschaftliche Zusammenleben ebenfalls keine erfreuliche Perspektive. […] Für die Weiterentwicklung sozialer Strukturen ist es unerlässlich, die eigene Schuld sehen und verarbeiten zu können.“ (S.109) Wann haben wir solche Sätze das letzte Mal im Zusammenhang mit Amok laufenden Schülern und Passanten prügelnden Jugendlichen gehört?
Einer wachsenden Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft fehlt nicht „Psyche“ – diesen Kindern wie Erwachsenen fehlen Anstand und Moral, Werte, die einst zum Segen und Leid in homogenen sozial-religiösen Strukturen tradiert wurden. Heute ist an die Stelle der Konventionalität, welche die Aufklärung vor 250 Jahren als menschlichen Fortschritt feierte, der Götze eines hemmungslosen Individualismus getreten, dessen erstes Opfer die Eltern der verwöhnten Egozentriker sind, die in immer mehr Familien heranwachsen. Diese durch falsches Lob und pädagogische Eitelkeit geschaffene Disposition des Denkens und Handelns ist kein Fixiertsein in einer „oralen Phase“, sondern ein erlerntes funktionales Handeln. Eine Gesellschaft, die Angst vor ihren Kindern bekommen hat, weicht ihrer Gewalt aus und gibt ihnen schleichend Recht.
Die Tragik von Winterhoffs beiden Büchern ist nicht so ihr Gegenstand selbst, sondern die Hilflosigkeit, mit der sie dem eigenen Thema begegnen. Winterhoff legt wie der biblische Thomas seine Finger in die Wunden, wie dieser jedoch zur Selbstvergewisserung und kaum zur Heilung. „Ich verstehe mich als Mahner und Wegweiser“ (S.181), schreibt er im letzten Kapitel. Er kann und will allerdings nicht sehen, dass seine Bestandsaufnahme eher lähmt als hilft, dass sein Schreiben sowohl inhaltlich als auch methodisch in die Vergangenheit weist statt in die Zukunft. Kein Wunder, dass seine Werke v.a. von jenen Mittelschichteltern geschätzt werden, die keine Probleme mit ihren Kindern haben, doch voll Mitleid und Misstrauen zugleich auf den Nachwuchs der Nachbarn und die Familien der Klassenkameraden ihrer Söhne und Töchter schauen. „Tyrannen müssen nicht sein“ ist ein Wohlfühlbuch für all jene, die – durchaus auch aufgrund ihrer eigenen Erziehungsleistung – nicht mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zusammenleben müssen. Eine pädagogische oder psychologische Offenbarung ist es, wie sein Vorgänger, hingegen nicht!
Dr. Johannes Streif
neue AKZENTE 86 / 2010