Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP)
Materialien für die klinische Praxis
Manfred Döpfner, Stephanie Schürmann, Jan Frölich
Beltz Psychologie Verlags Union, 2007
ISBN-10: 3621276041
ISBN-13: 978-3621276047
Preis: € 69,90
Um es vorwegzunehmen: Das Beste am »Therapieprogramm für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten« (THOP) ist zugleich sein größter Mangel. Es denkt an alles. Wissenschaftler nennen das die erschöpfende Behandlung eines Gegenstandes, auf dass kein Desiderat der Forschung verbleibe, keine alten Fragen offen sind und keine neuen Fragen sich eröffnen. Die Vertreter vermeintlich natürlicher Heilungsansätze sprechen demgegenüber von Ganzheitlichkeit, der mutigen Vorstellung umfassenden Verständnisses und seiner einfachen Erklärung. Der Volksmund betitelt solche Ideen des »Alles in einem« respektvoll-ironisch als eierlegende Wollmilchsau.
Noah Gordon prägte in seinem 1986 erschienen Bestseller »Der Medicus« den genialen Begriff des Universalspezifikums. Unter diesem Namen verkauft der mittelalterliche Bader im Roman sein Heilwasser, das unverstandene Krankheiten auf eine gleichermaßen unverständliche Weise zu heilen verspricht. Das Genie zeigt sich dabei in der Verbindung universeller Wirksamkeit mit der Besonderheit genau dieses Mittels, nicht anders, als wenn wir nach der Hochzeit eine vorgedruckte Dankeskarte erhalten, auf der steht, dass sich das Brautpaar nachgerade über unser Geschenk ganz besonders gefreut habe. Nur auf diese paradox anmutende Weise wird das Unmögliche möglich: an jemanden zu denken, den man nicht kennt – und dieser Person zudem zu helfen.
Das THOP ist ein gutes Universalspezifikum. In vier Auflagen hat es sich zum Standardmanual der Therapie mit verhaltensauffälligen Kindern aufgeschwungen. Wie die Autoren Manfred Döpfner, Stephanie Schürmann und Jan Frölich schreiben, richtet es sich an Therapeuten, welche mit Familien arbeiten, in denen hyperaktive Trotzköpfe leben. Die und andere profitieren aber auch vom Programm, wenn sie vorwiegend unter Aufmerksamkeitsproblemen oder schulischer Leistungsverweigerung leiden. Das THOP verbindet dabei Information mit Instruktion, Verhaltenstherapie mit Selbstmanagement-Techniken, emotionale Würdigung mit Verstärkerplänen und Hinweisen zur Medikation. Und es kommt nicht nur auf über 500 Seiten Papier daher, sondern inklusive einer CD-Rom, welche zahlreiche Fragebögen, Arbeitsblätter und Elternleitfäden zum persönlichen Druck freigibt. Samt Druckvorlage für das Türschild F06.1 »Spaß- und Spielzeit – Bitte nicht stören!«
Nun mögen ernsthafte Leser wie Spötter anmerken, dass rund 70 Euro für ein Buch die Messlatte hoch ansetzen, was dessen Umfang und Inhalt betrifft. Ist man jedoch weder ein Anhänger enzyklopädischer Handbücher, welche die Welt zwischen zwei Pappdeckel pressen, noch der Freund einer spontanen Beliebigkeit, die manchen Therapeuten zum Talkmaster des Supernanny-Kaffeeklatschs macht, so lässt einen die Lektüre des THOP irritiert zurück. Das Manual ist so umfangreich, dass man bisweilen das Skript einer Therapiestunde vor sich zu haben glaubt. Ist man kein Fachmann, wird das therapeutische Setting detailliert vorgezeichnet bis hin zu Argumentationslinien und der Antizipation schwieriger Therapiesituationen. Schafft der Therapeut es dennoch kaum, den Eltern zu vermitteln, warum und wie sie ihr alltägliches Erziehungsverhalten verändern sollen, überreicht er ihnen redselige »Elternleitfäden«, die in wohlgesetzten Worten verständige Mittelschichteltern von Techniken einer besseren Erziehung überzeugen wollen. Dem Kind wird sein Verhalten zugleich in den süßlich-hölzernen Geschichten des »Wackelpeter und Trotzkopf« gespiegelt – in verdaulichen Häppchen vorformulierter Reflexion und einer künstlichen Begeisterung für die positiven Wandlungen des eigenen Problemverhaltens.
Über viele Details der dem THOP zugrunde liegenden Vorstellungen von Kindern und ihrer Erziehung kann man trefflich streiten. Beispielsweise über die Unterscheidung von Aufforderung und Bitte. Ersterer habe das Kind zu folgen, zweiter dürfe das Kind nach eigenem Belieben entsprechen oder nicht. Die Mutter hüte sich künftig davor, das THOPerfahrene Kind morgens aufzufordern, es möge sich »bitte anziehen«, der Vater vor dem Ansinnen, den Nachwuchs um das Erledigen von Haushaltspflichten zu bitten. Interessant auch die Idee, das Kind an früher bereits mehrfach übertretene Regeln zu erinnern, bevor man es alleine lässt – quasi als konkrete Anregung zum Unfug in kontrollfreier Zeit. Demgegenüber muten die Vorschläge zur Eindämmung von kindlichem Problemverhalten in der Öffentlichkeit geradezu naiv-unrealistisch an. Jeder, der schon einmal mit seinem tobenden Fünfjährigen eine neue Sonntagshose einkaufte oder vom zwölfjährigen Filius vor Freunden als »Arschloch« bezeichnet wurde, weiß, dass in diesen Momenten weder Versprechungen noch Drohungen ins Bewusstsein des Kindes vordringen.
Die gleichermaßen direktivschlichten Vorgaben an Therapeuten wie an Familien machen eine grundsätzliche Einschränkung des Programms deutlich: Es richtet sich an die wachsende Gesellschaft der erzieherisch Ahnungslosen sowohl auf der Seite der beratenden und therapierenden Fachleute als auch der Familien im problemzentrierten Informationszeitalter. Diese Aussage ist weniger böse als verzweifelt. Ahnungslosigkeit meint hier keinen Mangel an Wissen, wie der Experte es aus Studien und der Laie aus den Medien bezieht, sondern der Abstand dieses Wissens zum eigenen Erleben und Handeln. Heute gibt es Ratgeber, die auf 200 Seiten erläutern, wie man die dreijährige Tochter ins Bett bringt. Nicht eine Seite davon weist den Leser darauf hin, dass alle Generationen zuvor zur Lösung dieses Problems die eigene Kindheit erinnerten, ihre Eltern fragten und die Nachbarn beobachteten. Und es gibt Therapieprogramme wie das THOP, die Eltern und Erziehern in vielen Stunden erläutern, wie man in der Spaß- und Spielzone hinter dem vordesignten »Bitte nicht stören!«- Schild dem Kind positive Aufmerksamkeit schenkt. Kaum eine Minute ihrer durch Krankenkassen und Steuergelder finanzierten Zeit widmen sie hingegen dem Gedanken, dass eine Erziehung im Alltag scheitern muss, die sich als Summe eines modular nachgebildeten Lebens begreift, deren pädagogisch wertvollen Elemente man anhand einer »Checkliste« für die »Indikation für Therapiebausteine« auswählt.
Die fehlende Bewusstheit der eigenen Grenzen lässt das THOP in gewisser Hinsicht kindisch wirken. Es erwartet von den Therapeuten, die es durchführen, letztlich allenfalls ein Wissen um ADHS und Sozialverhaltensstörungen, nicht aber Einsicht in die Funktionalität von Problemverhalten. Es erläutert die Durchführung von Token-Programmen, als ob es sich um das Kundenbindungsprogramm einer Autowerkstatt handelt, damit der Motor auch in fünf Jahren noch schnurrt und die Räder geradeaus laufen. Das THOP rückt zahllose Einzelprobleme als Symptome kindlicher Psychopathologie in den Mittelpunkt der erzieherischen Aufmerksamkeit, verstellt dabei jedoch den Blick auf das liebenswerte Ganze, als das ein Kind den Eltern erscheinen muss, um all die einseitigen Zuwendungen in Kindheit und Jugend zu motivieren. Es führt Eltern und Kinder gewissermaßen durch ein Disneyland beherrschbarer Schrecken sowie besseren Wollens und Könnens, das häufig weder dem Geist noch der Welt entspricht, in der die Familien leben.
Die Inszenierung der Familie als einem dysfunktionalen, aber reparablen System hat ihren konzeptionellen wie pragmatischen Preis. Die Schwäche des Ansatzes ist seine innere Logik, welche denjenigen, der ein Bild der defekten Familie entwirft, zur Aussage nötigt, was man wie besser machen kann. Steht das »Universalspezifikum« erst einmal auf dem Prüfstand, muss sein Schöpfer erklären, warum es dem aggressiven Kindergartenkind genauso hilft wie dem ängstlich-verweigernden Schüler, der akademisch gebildeten Hausfrau genauso wie der Arbeiterin mit Migrationshintergrund, dem Lehrer in der Elternzeit des Geschwisterkindes genauso wie dem gestressten Abteilungsleiter mit Vielfliegerkarte. Was nach all diesen Erklärungen bleibt, ist eine Sammlung therapeutischer Techniken für eine Sammlung spezifischer Problemstellungen, eine Art Lexikon des Erziehungsverhaltens. Eltern und Kind sind aufgefordert, ihr Zusammenleben als Flickwerk von Versatzstücken eines schematisierten Alltags zu identifizieren: Im Fall von »Verhaltensproblemen bei den Hausaufgaben« den entsprechenden Fragebogen D06 vorlegen, dann die Therapiebausteine F18 und K18 durchführen; die Eltern erhalten den dreiseitigen Elternleitfaden F18 »Wie Sie Probleme bei den Hausaufgaben lösen!« So einfach ist das.
Die pragmatischen Defizite des THOP sind vor diesem Hintergrund offensichtlich. Es mag Familien mit kleinen Kindern zwischen drei und acht Jahren helfen; bereits ein gut begabter Achtjähriger erkennt hingegen, dass durch die Konditionierung seiner entmachteten Eltern im Alltag ad hoc mehr zu gewinnen ist als durch einen Punkteplan. Das THOP stärkt – wie Triple P und andere Erziehungsprogramme – Eltern den autoritätsschwachen Rücken, die durch die medial vermittelte Heterogenität der gesellschaftlichen Werthaltungen und den mit ihnen verbundenen Erziehungsstilen grundsätzlich verunsichert sind; einer Mutter, die nach zwei unauffälligen, sozial angepassten und schulisch erfolgreichen Kindern an der Impulsivität und Totalverweigerung des dritten, hyperaktiven Kindes verzweifelt, bietet das THOP nichts, was sie nicht schon weiß, kann und tut. Ein Kindergarten- und Grundschulkind aus der bürgerlichen Mittelschicht mag sich an der neuen Spielinitiative seiner Eltern freuen; der Elfjährige mit kulturbedingt akzentuiertem sozialem Rollenbild, die Zwölfjährige mit ganztägig berufstätigen Eltern aus dem Glasscherbenviertel finden es einfach nur bescheuert, wenn Mami und Papi unvermittelt Präsenz im kindlichen Lebensalltag zeigen, sich für Schule und Freunde interessieren und Smileys fürs Zähneputzen verteilen.
Diese Kritik ist weniger polemisch, als sie zunächst anmutet. Trotz guter Absicht und akzeptabler Struktur des THOP gibt es eine Vielzahl an Erziehungsratschlägen, die bestenfalls zwiespältig, bisweilen sogar fragwürdig erscheinen, sobald sie nicht zur intendierten Verhaltensänderung beim Kind führen. Sie bergen das Risiko, das Kind die Schwachstellen elterlicher Autorität zu lehren, die es selbst noch nicht gefunden hat, indem das THOP den Eltern autoritative Erziehungstechniken nahelegt, ohne elterliche Autorität zu schaffen. So kann beispielsweise die »Auszeit« als Sanktion nur gelingen, wenn das Kind die positive Aufmerksamkeit der Eltern wünscht. Warum sonst sollte es entgegen seiner Lust und Laune auf einem Stuhl verharren oder vom Verwüsten des Kinderzimmers absehen? Wie aber bringe ich ein Kind nach Jahren des Streits und der wechselseitigen Verletzung dazu, die friedliche Gemeinschaft mit seinen Eltern zu wollen, wie dazu, noch immer oder gar wieder in deren Wohlwollen zu vertrauen?!
Autorität ist mehr als die Macht der Eltern über das Kind. Sie erwächst vielmehr in gleichem Maße aus der Erwartung des Kindes, dass seine Eltern die Liebe, den Witz und den Verstand haben, es zu schützen und zu bewahren. Diese Form elterlicher Autorität, die auch im Unerwarteten und Unbekannten trägt, lehrt das THOP durch seine rigide Ziselierung und mechanische Adressierung des Alltags gerade nicht. Es verhehlt Therapeuten wie Familien, dass es im Leben von Gemeinschaften immer wieder Situationen gibt, die man nicht wünschen, planen, proben kann. Momente, in denen die Hilflosigkeit des Einzelnen so groß ist, dass sie nur Verzweiflung oder aber Verleugnung, selbstergebenes Weinen oder aber irrationales Lachen zulässt. Es gibt Zeiten, da erfährt ein Don Bosco fürs Zaubern und Jonglieren mehr Respekt als Eltern für ihre Stärke, als ein Therapeut für die Vernunft, als ein Jugendrichter für die Androhung von Strafe. Das THOP kennt sie nicht – diese Zeiten des Unwägbaren, des Unsinnigen, der Angst und des Selbstzweifels, aber auch des Vergessens und Neubeginnens, des Gaukelns und Sich-Durchschlagens, des Paradox der Liebe zum Lieblosen, ja der Freude auch am Kampf Don Quixotes gegen die Windmühlen. Wer diese Therapie ernst nimmt, kann nicht mehr lachen, wenn einem zum Weinen zumute ist. Um das Problem der THOP-Therapie des Problemverhaltens mit einem Wort zu charakterisieren: Sie ist humorlos.
Vielleicht ist es daher nicht wahr, was eingangs geschrieben wurde: dass das THOP an alles denke. Es hat in zwölf Kapiteln sowie einer selektiven, THOP-Autoren-lastigen und teilweise veralteten Bibliographie an vieles gedacht, das als erzieherisches Wissen über die Therapeuten an Eltern und Kinder weitergegeben werden kann. Manchen, Profi wie Laien in der Erziehung, wird es auch lehren, das eine oder andere im Umgang mit Kindern zu verändern – den Ahnungslosen zum Vorteil, den Gestörten zum Nachteil. An was das THOP nicht denkt, ist der Tag danach, wenn die inszenierte Welt der Therapiestunde vorbei, die Fragestunde der Eltern beendet ist, und dennoch die vertrauten Probleme in neuer Gestalt den Alltag der Familie bestimmen. Was wissen die Eltern dann mehr als vor der Therapie: Vom einzigartigen Denken ihres Kindes, das allem Wahrnehmen und Handeln seinen subjektiven Sinn gibt? Von den eigenen Werthaltungen und emotionalen Verstrickungen, die das Erziehungsverhalten unausweichlich bestimmen, weil sie die erkennbaren Möglichkeiten limitieren, die Erwartungen einengen und Erfolg wie Scheitern in großen Teilen vorwegnehmen? Was schließlich von der unaufkündbaren Verbindung zwischen Eltern und Kind, die jedes Aufgeben und jede Trennung auch dann noch unendlich schmerzhaft macht, wenn das Leiden an der Gemeinschaft am größten ist? Hier macht das THOP das Ungedachte zum Undenkbaren: Was tun, wenn die Therapie nicht hilft?!
Rob Cole wird im Roman vom Bader zum »Medicus«, zu einem wahren Arzt, dessen Wissen und Können die Illusion des »Universalspezifikums« zwar nicht nutzlos, so doch bedeutungslos machen. Auch wahre Psychotherapie macht sich in ihrem Erfolg bedeutungslos, da sie ihre Klienten in die Lage versetzt, als Geheilte ihr Heil selbst zu suchen und zu finden. Sie denkt weder an alles noch für alle, sondern daran, dass letztlich jeder sein Leben für sich denken muss. Im eigenen Kopf wird unsere Existenz wahlweise zur Summe der Defizite, die wir und andere an uns sehen, oder aber zur Idee, dass unserem Willen zur Selbstbestimmung keine Grenzen gesetzt sind. Das gilt für Kinder nicht anders als für Erwachsene. Dazwischen entfaltet sich das Leben in all seinem Segen und all seinem Leid. Weder HOP noch THOP, sondern so, wie wir es zu verstehen gelernt haben.
Dr. Johannes Streif
aus neue AKZENTE Nr. 80 - 2008