Leslie Iversen:
„Speed, Ecstasy, Ritalin – Amphetamine, Theorie und Praxis“
ISBN 978-3-456-84411-4
(Bern: Huber-Verlag, 2009)
Preis 29,95 Euro
Als ich den Titel von Iversens Buch erstmals sah, dachte ich zunächst bei mir: Bitte, nicht noch eine Publikation, die Kapital aus Unwissenheit und Angst schlägt – Unwissenheit hinsichtlich medizinischer Zusammenhänge, und einer unspezifischen Angst vor „Drugs“ (dem amerikanischen Begriff für Medikamente und Drogen) einschließlich einer mystisch-finsteren Abhängigkeit von Substanzen und ihren Produzenten!
Zugegeben: Der Titel des Buches, das bereits im englischen Original so heißt, macht sich die Popularität der Begriffe zunutze. Autor und Verlag sei es jedoch mehr als verziehen, denn wer immer Iversens Buch liest, wird am Ende mehr über die Strukturklasse der Amphetamine wissen, über ihren Gebrauch und ihren Missbrauch. Ehrlicherweise ist anzumerken, dass der Gebrauch des Amphetamins und seiner Derivate über Jahrzehnte mitnichten durchwegs medizinisch begründet war und ist – und sein Missbrauch leider allzu oft und allzu lange legal erfolgte, ja noch immer erfolgt. Wer nun aber glaubt, Iversen liefere die Argumente für eine populistische Gleichsetzung von zentralnervös stimulierenden Medikamenten und psychoaktiven Drogen, der täuscht sich. Am Ende werden gerade jene Leser erstaunt und verwirrt sein, die der simplen Logik anhingen, die Ähnlichkeit der Substanzen begründe eine vergleichbare Ähnlichkeit der Wirkungen. Aber auch die Anhänger eines beliebigen Gebrauchs von Methylphenidat können lernen, dass dem sinnvollen medizinischen Nutzen durchaus scharfe Grenzen gesetzt sind, welche durch Indikation, Dosis, Darreichungsform und auch die Kontrolle über die Substanzeinnahme bestimmt werden.
Doch der Reihe nach. Das Buch ist in neun Kapitel unterteilt, von welchen die Kapitel 2 „Was sind die Amphetamine und was bewirken sie im menschlichen Gehirn?“, 3 „Medizinische Verwendungen für Amphetamine“ und 7 „Wie gefährlich sind Amphetamine?“ am wichtigsten sind. Freilich sind auch die Abschnitte über den illegalen Handel mit Amphetaminen, deren weltweiter Umsatz auf über 60 Milliarden US-Dollar jährlich geschätzt wird, sowie ihre Erscheinungsformen als Drogen sehr spannend. Zudem erläutert der Autor, gestützt auf wissenschaftliche Befunde, warum zwischen der oralen Einnahme von Methylphenidat bei ADHS einerseits, dem Schnupfen oder Spritzen von Methamphetamin als Droge andererseits ein himmelweiter Unterschied besteht. Allerdings mutet es stets unheimlich an, verweist jemand darauf, wie einfach Substanzen herzustellen sind, deren Effekte auf Körper und Psyche gleichermaßen eindrucksvoll wie verheerend sein können. Berühmte Leute wie John F. Kennedy oder die Schauspielerin Judy Garland müssen retrospektiv als Amphetamin-Abhängige qualifiziert werden. Nicht nur in den westlichen Industriestaaten, sondern v. a. auch in den Schwellenländern Südostasiens konsumieren heute Abermillionen täglich amphetaminhaltige Drogen. Viele glauben, die Einnahme mache sie wach, kreativ und schier übermenschlich leistungsfähig, bis die Abhängigkeit ihren Körper und Geist vielmehr ausgezehrt, einfallslos und krank zurücklässt.
Iversens Werk ist ein Fachbuch und keine Bettlektüre! Um zu verstehen, was viele der zahlreichen zitierten Studien und ihre Ergebnisse bedeuten, braucht man ein solides Vorwissen im Bereich der Medizin und Psychologie, v. a. der Neurologie und Neuropsychologie. Die Anzahl der wissenschaftlichen Experimente, insbesondere mit Tieren, die in den letzten 50 Jahren unter Einsatz von Amphetaminen durchgeführt wurden, ist groß. Das aus ihnen gewonnene Wissen sowie die im Feld erhobenen Daten von Soldaten, Sportlern und Drogenkonsumenten setzt Iversen wie ein Puzzle zu einem mehr oder minder einheitlichen Bild zusammen:
Amphetamine sind im zentralen wie peripheren Nervensystem hochwirksame Substanzen. Sie wirken v. a. in den Systemen von drei im Gehirn multipel aktiven Neurotransmittern: Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Für die höheren kognitiven Funktionen wie Lernen, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Impulskontrolle ist das Dopamin, dessen Stoffwechsel eng mit dem des Noradrenalins verbunden ist, am bedeutsamsten. Langsame Substanzaufnahme bei oraler Einnahme begrenzter Dosen ist sinnvoll für medizinische Indikationen wie ADHS oder Narkolepsie; schnelle Substanzaufnahme im Gehirn durch die Nasenschleimhäute oder intravenös führt je nach Substanz und Menge zu Rauscherleben, Sucht und strukturellen Nervenschäden. Nicht zuletzt macht es für die Suchtentwicklung und sogar für die mit ihr einhergehenden Veränderungen der Hirnstruktur einen Unterschied, ob das Gehirn selbst entscheiden kann, wann es sich die Substanz zuführt, oder andere die Substanzeinnahme regeln.
Im Kapitel 4 beschreibt Iversen überblickshaft die bis zum Jahr 2005 vorliegenden Befunde zum Einsatz von Amphetaminen zur Leistungssteigerung. Hier werden v.a. Beispiele für den militärischen Gebrauch der Amphetamine seit den 1930er Jahren sowie im Sport angeführt. Gruselig sind die Hinweise auf stereotypes, enthemmtes und bisweilen paranoides Erleben und Verhalten sowie Todesfälle durch körperliche Überanstrengung infolge des Amphetaminkonsums. Leider lässt der Autor die wachsenden Befunde zum „Cognitive Enhancement“ an dieser Stelle aus. Im „Auswirkungen auf die kognitive Leistung“ überschriebenen Abschnitt des zweiten Kapitels sowie an anderen Stellen des Buches geht er allerdings auf die diesbezüglichen Effekte des Amphetaminskonsums ein. Fazit für Gesunde, wie ich es bereits in meinem Fachbuchartikel von 2008 zu „Ritalin und Cognitive Enhancement“ ausführlich darlegte: Zur Erhöhung der Vigilanz bei stumpfsinnigen Tätigkeiten taugen die Amphetamine; bei komplexen Denkaufgaben sowie im Hinblick auf die langfristigen Auswirkung auf Lernfähigkeit, Willkürsteuerung der Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen ist der Amphetamin-Konsum eher schädlich.
Was zudem bedenklich ist: Studien, die den Selbstbericht von Probanden unter Amphetamin mit der testpsychologisch gemessenen tatsächlichen Leistungsfähigkeit verglichen, fanden heraus, dass das subjektive Erleben gesteigerter Konzentrations- und Leistungsfähigkeit nicht mit einer realen Verbesserung der Leistungen einherging. Diese Beobachtung entspricht den Erfahrungen mit anderen Drogen, welche ihren Konsumenten beliebigen Ideenreichtum und ungewohnte Denkschärfe vorgaukeln, wohingegen der Mensch unter Drogeneinwirkung faktisch in Stereotypien, Redundanz und eine pathologische Auflockerung logischer Gedankenzusammenhänge verfällt.
Leider präsentieren uns die Medien in letzter Zeit häufig Beispiele von Schülern, Studenten oder Karrieristen, die Methylphenidat zur Leistungssteigerung einnehmen und von vermeintlich günstigen Auswirkungen auf die eigene Leistungsfähigkeit berichten, zuletzt in einem SPIEGEL-Artikel vom 26.10.2009 sowie einem Beitrag auf „arte“ vom 17.01.2010. Selbst bemüht Ritalin-kritische Veröffentlichungen wie die „stern“-Reportage vom 29. Oktober vergangenen Jahres machen mit ihren plakativen Schwarz-Weiß-Darstellungen Werbung für eine wundersame Wirkung von Methylphenidat, die es schlicht nicht gibt. Nicht weniger kritisch sollten wir euphorische Berichte von ADHS-diagnostizierten und nun medikamentös behandelten Erwachsenen lesen, die in Internetforen die schlagartige Verwandlung ihres qualvollen Lebensalltags in eine Erfolgsgeschichte privaten Glücks und beruflichen Fortschritts beschwören. Amphetamine, v.a. das Derivat Methylphenidat, sind für Menschen mit ADHS extrem hilfreich, weil die Betroffenen in der Funktion bestimmter dopaminerger und noradrenerger Bereiche des Nervensystems offenbar Probleme haben. Werden diese durch die Medikation adressiert, nicht zuviel und nicht zuwenig, sind die Betroffenen „back to normal“, nicht mehr und nicht weniger.
Abschließend soll nicht verschwiegen werden, dass ein kritischer Blick nachgerade auch auf den medizinischen Gebrauch von Amphetaminen notwendig ist. Nachdem die Nutzlosigkeit von Substanzen dieser Strukturklasse zur Bekämpfung des Übergewichts sowie die z.T. gefährlichen Nebenwirkungen einer langfristigen und hochdosierten Amphetamineinnahme Anfang der 1990er Jahre längst bekannt waren, kam es infolge des sogenannten Fen-Phen-Skandals um die Jahrtausendwende zum größten und teuersten Verfahren gegen einen Hersteller von amphetaminhaltigen Appetitzüglern in der US-amerikanischen Geschichte. Bis heute bildete der größte Produzent und Vermarkter dieses Kombinationspräparates über 20 Milliarden US-Dollar an Rückstellungen zur Entschädigung für erlittene Schäden u.a. an den Herzklappen der Patienten. Die Gier des Unternehmens und seiner Investoren waren größer als Verstand und Vernunft.
Mag es sich im Fall der Therapie der ADHS durchaus um eine andere Indikation und andere Substanzen handeln, mag die medikamentöse Behandlung der ADHS mit Methylphenidat auch über viele Jahre erprobt und sicher sein, so sind Wachsamkeit und Vorsicht beim medizinischen Einsatz von Amphetaminen – wie dem anderer Wirkstoffe – weiterhin dringend geboten. Vor dem Hintergrund einer hochtechnisierten Gesellschaft und globalen wirtschaftlichen Konkurrenz ist nicht nur der Einzelne, sondern die Gemeinschaft als „Scientific Community“, mediale Öffentlichkeit und staatliche Einheit aufgefordert, im Vorfeld zu bedenken, was das menschlich Mögliche für den in der Folge möglichen Menschen bedeutet. Erwachsene, die über ihre Gesundheit selbst befinden und entscheiden können, müssen sich fragen, ob die Substanzeinnahme sie tatsächlich besser leisten, den sozialen Anforderungen eher genügen und langfristig besser leben lässt – oder ob sie sich für den Augenblick einfach besser fühlen. „Wer weiß, wann ein weiteres »Ecstasy« gefunden wird, das möglicherweise eine einzigartige Permutation von Dopamin, Noradrenalin und Serotonin ankurbelndem Potenzial mit einem neuen psychopharmakologischen Profil darstellt? Eine Tablette, die das ganze Wochenende über wach hält ohne Kater? Oder eine, die glücklich und einfühlsam macht, ganz ohne die Risiken von Ecstasy?“ Leslie Iversen kann nicht anders, als diese Fragen am Ende der 212 Seiten von „Speed, Ecstasy, Ritalin“ offen zu lassen. Unsere Gesellschaft muss sich jedoch heute bereits Rechenschaft darüber ablegen, ob sie den Weg von der Behandlung massiv verhaltensauffälliger Kinder zur alltagsüblichen medikamentösen Unterstützung von Lernen und Leistung gehen möchte. Die Medien und ihre Vertreter aber stehen vor der Aufgabe, endlich mehr zu lernen, zu begreifen und zu vermitteln, wo die schmale Grenze zwischen ethisch-wissenschaftlicher Erkenntnis und moralisch ungebundener Vermarktung von Information liegt.
Dr. Johannes Streif
neue AKZENTE 85 / 2010