stern Nr. 45/2009 - "Zeit des Erwachens"
Stellungnahme des ADHS Deutschland e.V.
Die Ausgabe des „stern“ vom 29.10.2009 hat uns als Vertreter des größten deutschen Selbsthilfeverbandes für von einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) Betroffene und ihre Angehörigen überrascht und empört! Mit Überraschung haben wir die zahlreichen sachlichen Fehler zur ADHS in Editorial und Artikel zur Kenntnis genommen, die eine offenkundige Desinformation der Leser darstellen. Empört hat uns demgegenüber die von Vorurteilen und Polemik geprägte Präsentation der Inhalte, die einen allenfalls geringen Respekt sowohl vor dem Schicksal der geschilderten Kinder, als auch der Arbeit von Ärzten und Therapeuten erkennen lassen, insbesondere auch die Darstellung der Eltern verhaltensauffälliger Kinder als überforderte Erziehungsversager. Auf diese Aspekte soll im Weiteren en detail eingegangen werden.
Der immerlaute Vorwurf der Ruhigstellung
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der inzwischen erfreulich kenntnisreich-kritischen Berichterstattung über pädagogische und medizinische Themen in den Massenmedien bleibt uns unverständlich, wie der „stern“ einen sachlich derart fehlerhaften Text abdrucken konnte. Die Fehler beginnen – im Kontext der dem Marketing der Zeitschrift verpflichteten Aufmachung von Titelblatt und Editorial noch lässlich – mit der Aussage, hunderttausende von Kindern würden mittels Methylphenidat (MPH) „ruhiggestellt“. Abgesehen von der Frage, warum der „stern“ im Weiteren mit großer Hartnäckigkeit für den Markennamen „Ritalin“ Werbung macht, ist der Begriff der „Ruhigstellung“ angesichts eines Medikamentes, das zu den Stimulanzien zählt, schlicht falsch. Er ignoriert nicht nur den seit vielen Jahren bekannten Wirkmechanismus der Substanz über die Aktivierung von Regelkreisen im präfrontalen Kortex, sondern auch die Verhaltensbeobachtung der von der ADHS betroffenen und medikamentös behandelten Kinder, die mehrheitlich durch MPH sicherlich weder in der Familie noch in Schule und Freizeit besonders ruhig erscheinen.
Falsch ist der Anspruch, der „stern“ zeige mit seinem Bericht, dass von der ADHS betroffene Kinder und Jugendliche auch ohne Medikamente leben könnten. Warum auch nicht? Angesichts der nun rund 150 Jahre zurückreichenden Geschichte der Beschreibung des Störungsbildes, das erst in den letzten Jahrzehnten in den Fokus von Psychiatern und Psychotherapeuten geriet sowie medikamentös behandelt wurde, ist die Feststellung, die Betroffenen überlebten auch ohne Medikamente, trivial. Im Hinblick auf die besonderen Lebensumstände der Probanden, die acht Wochen auf einer Almhütte isolierten waren, ist die Beweiskraft des Projektes für die Lebenszufriedenheit von ADHS-Kindern in ihren Familien sowie für ihren Erfolg in Schule und Beruf gleich null, völlig unabhängig von pädagogischem Ansatz und/oder Medikation!
Als Leser fragt man sich, wie der Autor des Artikels zu der Vorstellung kommt, das Leiden von weltweit Millionen verhaltensauffälliger Kinder in ihren jeweiligen Gesellschaften könnte auf den Hochalmen dieses Planeten wirksam behandelt werden. Selbst den Teilnehmern des Projektes war das bewusst. Janis fragt an einer Stelle, wie so viele Kinder in zahllosen sonderpädagogischen Programmen und Psychotherapien: „Aber was bringt das?“ Gemeint ist offenkundig die Bedeutungslosigkeit des stilisierten Hüttenlebens für den unausweichlichen sozialen Zwang in den Niederungen der familiären und schulischen Realität.
Doch der Autor gibt diese für einen Jugendlichen unserer Zeit und Gesellschaft zutiefst verständliche Haltung bereits im nächsten Satz der Lächerlichkeit preis. Dem unverständigen Jungen gehe es dabei nur um seine „Kumpel, die Alkohol trinken und rauchen, seine Musik, schwarze, schwere Metallmusik, bei der er sich entspannt und Aggressionen loswird“. Janis, der mit seinen 14 Jahren zu einfältig ist, einzusehen, welches Glück ihm durch die Münchner „Sinn-Stiftung“ und ihr Almprojekt zuteil wurde. Oder kennzeichnet die Einfalt nicht vielmehr das Denken von Generationen ideologischer Gesellschaftserzieher und ihrer Hofberichterstatter in den Medien, in deren künstlichen Lebensmodellen der jeweils nächsten Generation ein vermeintlich besseres Leben vorgegaukelt wird, das außerhalb der geschützten Therapieräume niemals existiert?!
Petitio Principii – Der Beweis des Vorweggenommenen
Die so evidente Absicht des „stern“, an den Teilnehmern des Projektes zu demonstrieren, was bereits zuvor als Botschaft feststand, ist der Ausgangspunkt weiterer unrichtiger Behauptungen. So schreibt Chefredakteur Osterkorn im Editorial, Experten stritten um den Status des MPH zwischen „Wunderdroge“ und „chemischer Keule, die Symptome bekämpft, aber keine Ursachen therapiert – und am Ende womöglich süchtig macht“. Darüber aber streiten die Fachleute in Sachen ADHS schon lange nicht mehr, auch wenn der „stern“ in seiner Berichterstattung immer wieder mit Sensation heischendem Nachdruck das Bild leistungssüchtiger Karrieristen, ehrgeiziger Eltern und gewissenloser Mediziner aufruft. Die Neuropsychologie weiß sehr gut, dass MPH im Fall nicht von der ADHS betroffener Konsumenten keine relevanten kognitiven Leistungssteigerungen schafft. Die Legionen MPH missbrauchender „Studenten, Manager und Börsenmakler“ sind schlicht eine Erfindung der Medien, gestützt auf Zahlen, welche durch eine einzige nicht repräsentative Umfrage der Zeitschrift „Nature“ entstanden und seitdem aus dem Kontext gerissen von Boulevardblatt zu Boulevardblatt kolportiert werden.
Die signifikante Reduktion des Suchtrisikos im Erwachsenenalter durch die medikamentöse Behandlung der ADHS in Kindheit und Jugend ist wissenschaftlich seit Jahren bekannt und nachgewiesen. Nicht zuletzt eine deutsche Studie an der Berliner Charité hat zu dieser Erkenntnis beigetragen. Die Geschichte ihrer schleppenden Veröffentlichung wurde retrospektiv zu einem Lehrstück des Umgangs mit den enttäuschten Erwartungen einer wissenschaftsfernen Politik und Medienwelt. Es ist bitter festzustellen, dass selbst dem Chefredakteur eines großen deutschen Wochenmagazins das Spiel mit der Angst – entgegen aller wissenschaftlichen Evidenz! – mehr zusagt als eine seriöse Berichterstattung. Oder wird heutzutage schlicht auf jedwede Recherche verzichtet?
Zugleich kann die Medikation mit MPH viel mehr als jede pädagogische und psychotherapeutische Intervention für sich in Anspruch nehmen, auf die Ursache der Verhaltensauffälligkeiten bei ADHS abzuzielen: die Impulskontrollstörung. Das aber ist nachgerade die Krux der medikamentösen Therapie von Verhaltensauffälligkeiten. Eine verbesserte neurophysiologische Verhaltenssteuerung gewährleistet kein sozial angepasstes Denken und Handeln. ADHS-Kinder brauchen – wie alle Menschen – eine gute Erziehung, um zu verstehen, wie eine Gemeinschaft funktioniert und welches Verhalten zu sozialer Anerkennung führt.
Stellen Sie sich vor, wie viel mehr Janis, Pascal, Adrian und die anderen von den Wochen auf der Alm hätten profitieren können, wenn ihre biologische Fähigkeit zur Kontrolle des eigenen Verhaltens von Beginn an besser gewesen wäre! Die ideologische Gegenüberstellung von Hüttengemeinschaft einerseits, Medikation der ADHS andererseits ist so schmerzhaft widersinnig wie die Vorstellung, Schluckimpfung und Rollstuhl seien angesichts der Kinderlähmung ernsthaft zu erwägende Alternativen. Deshalb ist Hüthers „Experiment“ alles andere als spannend, sondern schrecklich banal. Im „stern“ liest man darüber wie im Bericht einer Schülerzeitung über das letzte Schullandheim – mit dem bedeutsamen Unterschied, dass in der Schülerzeitung die Schüler selbst zu Wort kommen, im „stern“ nur die Erwachsenen mit dem erhobenen Zeigefinger. Um wie viel anspruchsvoller und berichtenswerter ist da die tägliche Arbeit eines engagierten Lehrers im Vergleich zur Tätigkeit eines Betreuers in einem von der gesellschaftlichen Realität abgeschotteten Camp!
Gesellschaftspolitik auf Kosten des Individuums
Was bleibt vor diesem Hintergrund übrig von der Forderung des Chefredakteurs, „eine große Studie zu machen, um alle Folgekosten der Auswirkungen zu addieren, die sich daraus ergeben, dass Kinder mit den derzeitigen Verhältnissen nicht mehr zurechtkommen“? Die Mehrzahl der Kinder in unserer Gesellschaft kommt sehr gut mit ihrem Schicksal zurecht, besser als ihre Eltern vor 30 Jahren und ihre Großeltern vor 60 Jahren, die kaum jemand nach ihrem Befinden in Familie, Schule und Freizeit fragte. Es ist eben ein großes Geschäft geworden, das Verhalten von Kindern zu problematisieren und sodann pädagogischen und therapeutischen Interventionen zuzuführen. Ein nicht minder lukratives Feld ist freilich auch die Berichterstattung über Verwahrlosung und Gewalt, kaputte Familien, miese Schulen und eine kunstvoll inszenierte gesellschaftliche Apokalypse.
Die Wahrheit ist: Manche Kinder leiden an ihrer Umwelt, ihren Eltern und Geschwistern, Lehrern und Erziehern, ihren Schulkameraden und falschen Freunden. Manche Kinder leiden an Lernstörungen, Autismus oder ADHS, die es schwer machen, in Familie und Schule zu bestehen, da unser Lernen durch den Erfolg im sozialen Vergleich stimuliert wird. Manche Kinder leiden an der ADHS und ihrer Umwelt, weil ihre leichte Erregbarkeit offen für jede Ablenkung macht, weil ihre Unruhe die Mitmenschen nervt, weil ihre Erziehung mehr Kraft und Ausdauer erfordert – und weil Kraft und Ausdauer nicht selten von Eltern gefordert werden, deren Erziehungsverhalten seinerseits von den genetischen Anlagen der ADHS beeinflusst wird.
Der apodiktische Anspruch des „stern“, es gehe auch ohne Pillen, macht den Autor der Reprotage blind gegenüber Wahrheit und Wirklichkeit. Zur Diagnose der ADHS wird kein Stoffwechsel untersucht, – und welcher Neunjährige hätte jemals von sich aus erklärt, seinen Stoffwechsel nicht mehr untersuchen lassen zu wollen?! Adrian wolle „endlich wegkommen von dieser verdammten Pille“, heißt es dann in einem der folgenden Absätze, als hätte der kleine Junge bereits ein klares Bewusstsein dafür entwickelt, dass er wie ein Junkie von seinem Stoff abhänge. Wer täglich mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, weiß, dass sie Tabletten jenseits des Akts ihrer Einnahme zunächst völlig gleichgültig gegenüber stehen. Das gilt auch für die meisten ADHS-Betroffenen, welche Segen und Fluch der Medikation von sich aus selten thematisieren. Bis zum Jugendalter distanzieren sie sich so wenig von den Tabletten wie sie deren Einnahme aktiv wünschen. Dann brechen viele Jugendliche mit ADHS im Protest gegen Eltern, Ärzte und Therapeuten die oft hilfreiche Medikation ab – mit negativen Folgen für Sozialverhalten und Schulerfolg.
Der vermeintlich kindliche Ausspruch von der „verdammten Pille“ ist gleichermaßen ein Produkt und die Projektion erwachsener Perspektiven wie die im Zusammenhang mit der Medikation der ADHS immer wieder behauptete Gewöhnung von Kindern und Jugendlichen an die Kur aller Probleme durch Substanzeinnahme. Beides ist einmal mehr eine Erfindung von Erwachsenen, die ihre Sichtweisen einschließlich Ängsten und Hoffnungen auf die nächste Generation projizieren, weil sie für dieselben Fragen an das eigene Leben keine Antworten wissen.
Verbale Aufrüstung wider besseres Wissen
Vom „Krieg in den Köpfen der Kinder“ bis zur „drohenden seelischen Verwahrlosung“ wird im „stern“ eine Begrifflichkeit bemüht, die um Aufmerksamkeit für das eigene journalistische Werk wirbt, während der Gegenstand – Kinder und ihre Familien – zum exemplarischen Beiwerk herabgewürdigt wird. Auch wenn es pharmakotherapeutisch nicht möglich ist, mit Stimulanzien „das gereizte Gemüt zu dimmen“, wird der Unsinn von der Ruhigstellung von Kindern durch MPH auf vier Seiten Text vielfach wiederholt. Dabei wird die dominant genetische Basis der ADHS als Teil eines mechanistischen Menschenbildes pauschal den „Ärzten“ angelastet, wohingegen die „Entwicklungspsychologen“ die ADHS angeblich durch „Reizüberflutung“ und eine „abnehmende Bereitschaft, Kinder kindgerecht zu erziehen“, erklärten.
Wo aber sind die Namen von Vertretern der genannten Berufsgruppen, deren Aussagen diese fragwürdige Gegenüberstellung stützen? Es gibt sie nicht, da auch die große Mehrheit der Entwicklungspsychologen von einer in hohem Maße erblichen neurophysiologischen Disposition des Störungsbildes ausgeht. Mutmaßlich konnte der Autor nurmehr der Versuchung nicht widerstehen, in laienhafter Manier das Zerrbild des tablettengläubigen Schulmediziners gegen das Klischee des Psychotherapeuten in Stellung zu bringen, der mit wohlfeilen Worten und psychodynamischen Techniken die Gesetze der Biologie, Physik und Chemie außer Kraft setzt, die letztlich auch für das menschliche Gehirn gelten. Gerald Hüther ist im Übrigen weder Arzt noch Psychologe, was die Frage aufwirft, warum gerade er zum Kronzeugen einer medienwirksamen ADHS-Kritik wurde, die viele wissenschaftliche Befunde der Psychologie und Medizin hartnäckig ausblendet.
Zu diesen geflissentlich ignorierten empirischen Daten gehört auch, dass die Medikation der ADHS mit MPH keinen systematischen Einfluss auf das Größenwachstum hat. Was helfen aber wissenschaftliche Untersuchungen im Auftrag von Gesundheitsbehörden zahlreicher Länder, deren Mitarbeiter sich durchaus um das Wohlergehen der nächsten Generation sorgen, weil sie – nicht anders als zahlreiche Pädiater, Kinder- und Jugendpsychiater wie auch Psychotherapeuten – meist selbst Kinder haben, gegen das Gefallen der Medien an der Sensation?! Wer unter den Eltern des von der ADHS betroffenen Nachwuchses liest die Fachjournale, wer die Boulevardblätter wie den „stern“? Daher lassen viele Väter und Mütter unter den mit der ADHS befassten Fachleuten ihre eigenen betroffenen Kinder von Kollegen medikamentös behandeln, weil sie die Vor- und Nachteile der Medikation gegeneinander abwägen können. Denn wer es besser weiß, macht nicht populistisch aufbereitete Ängste zum Kriterium seiner Entscheidungen, sondern Fachwissen, die eigenen Erfahrungen und einen vernünftigen Blick auf die Optionen der Kinder in unserer Gesellschaft.
Die Verunsicherung der Unwissenden
Zurück bleiben verunsicherte Eltern, die alleine kaum in der Lage sind, die Folgen ihrer Entscheidungen für sich und das eigene Kind abzusehen. Das ist keine Frage des Intellekts, sondern des Zugangs zu verlässlichen Informationen sowie der Vertrautheit mit ihrer Bewertung. Begreifen Sie die grausame Ironie, die eine Folge von in der Sache zutiefst fragwürdigen Darstellungen der ADHS und ihrer Behandlung wie der Ihren im „stern“ ist? Diejenigen, welche eher über die materiellen und sozialen Voraussetzungen verfügen, ihren Kindern trotz deren Verhaltensauffälligkeiten einen Platz in der Gesellschaft zu erstreiten, nutzen zudem die Chance einer fachlichen Beratung und medikamentösen Therapie. Diejenigen aber, die in Beruf und Familie beständig an der Grenze der Belastbarkeit leben, versagen sich und ihrem Kind aufgrund der Lektüre des „stern“ nun eine möglicherweise entscheidende Hilfe für ein zufriedenes Leben in der Gemeinschaft mit anderen. Sie missbrauchen als Journalisten diese Kinder und ihre Familien als Vehikel für eine billige Gesellschaftskritik, ohne selbst hilfreich zu sein oder einen Weg zu realistischer Hilfe aufzuzeigen. Das ist zutiefst traurig!
Wie wenig Herr Hüther in den zehn Jahren über die ADHS gelernt hat, seit er seine Forschungen zur Langzeitwirkung der psychopharmakologischen Intervention bei Kindern in Zusammenarbeit mit anerkannten medizinischen Kollegen durchführte, wird in den weiteren Ausführungen des Artikels deutlich. Im Fall der ADHS von eine „Beziehungsstörung“ zu sprechen, ist so peinlich wie seinerzeit die grausame Theorie von Nikolaas Tinbergen und Anhängern, der Autismus sei eine Reaktion der Kinder auf gefühlskalte Mütter. Als nationaler Verband, der Tausende von Familien in fast 300 Ortsgruppen vertritt, haben wir für die esoterische Behauptung, die betroffenen Kinder „bräuchten“ die Symptomatik der ADHS nicht mehr, würden sie sich „dazugehörig fühlen“, nur eine Erklärung: Herr Hüther kennt wenige Familien mit ADHS-Kindern, sicher aber keine Jugendlichen und Erwachsenen mit ADHS!
Worauf gründen Professor Hüther und der „stern“ nur ihre Vorstellung, die ADHS sei eine Störung vernachlässigter und/oder misshandelter, vereinsamter und kreuzunglücklicher Unterschichtskinder, deren Eltern keine Zeit für die Familie haben und mit der Erziehung der Sprösslinge überfordert sind?! Wissen Sie es nicht besser? Wollen Sie es nicht wissen und meiden daher jeden Anschein der Normalität im Alltagsleben der vorgeführten Kinder des Almexperiments? Mutmaßlich war die Geschichte des „traurigen Helden“ Pascal, der morgens von der Mutter per Handy geweckt wird, zu publizistisch kostbar, um durch den Bericht über eine Akademikerfamilie relativiert zu werden, von deren fünf Kindern eines verhaltensauffällig ist. Ein Kind wie viele mit ADHS, das seine Eltern lieben und umsorgen wie die Geschwister, das sie nicht anders erziehen als die älteren und jüngeren Brüder und Schwestern, in dessen Entwicklung sie gezwungenermaßen sogar mehr Zeit und Herzblut investieren – und das doch von Geburt an anders war und blieb. Es gibt doch auch viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit dieser Diagnose, die in ihren Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Lehrern und Freunden glücklich sind, trotz aller Alltagsschwierigkeiten!
Hingegen findet sich unter den Abertausenden von Geschichten, die wir in unserer Arbeit als Selbsthilfeverband erfuhren, nicht eine wie die von Janis, der in der dritten Schulklasse ein Problemschüler gewesen sei, in der vierten Schulklasse jedoch bereits Klassenbester – allein dank Medikation. Der eigentümliche Widerspruch in der Darstellung von MPH zwischen Wundermittel und Teufelszeug ist so unseriös wie die nicht enden wollende Klage über die unzureichende Untersuchung der langfristigen Auswirkungen der Medikation der ADHS. Tatsächlich wissen wir sehr viel über die Entwicklung von ADHS-Kindern bis ins Erwachsenenalter, mit und ohne medikamentöse Behandlung. Genug, um davon auszugehen, dass Medikamente bei zeitgleicher erzieherischer Anleitung und pädagogischer Förderung helfen, die Talente der betroffenen Kinder in der Gemeinschaft zur Geltung zu bringen. Allerdings auch genug, um einzusehen, dass mit Tabletten allein mittel- und langfristig weder bessere Schulnoten noch ein bestimmtes Verhalten oder gar eine bessere soziale Integration der Betroffenen erreicht werden kann.
Was wollen wir mehr wissen? Wie der Gesundheitszustand unserer Kinder nach drei oder fünf oder sieben Jahren der regelmäßigen MPH-Einnahme in Kindertagen nach weiteren 70 Jahren sein wird?! Stellen wir uns diese Frage denn in gleicher Weise für die Auswirkungen all der anderen raschen Veränderungen unserer Tage in der Lebensgestaltung, von der Ernährung über die Technik bis zum Klimawandel? Und macht sie, so berechtigt sie im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist, wirklich auch Sinn im Angesicht individuellen Leidens hier und jetzt?! „Adrian weint viel in den ersten Tagen. Er vermisst seine Eltern, er hat Bauchschmerzen, er kotzt nachts vor Sehnsucht. (…) Der Kleine ist durcheinander. Das Heimweh, die fremde Umgebung, die anderen Jungs, alle so laut, so unordentlich, so aufgeregt. (…) Adrians Nerven liegen blank, seit er die Pille nicht mehr nimmt. Er vermisst seine Schwester und will nach Hause.“ Können wir uns denn nicht darauf verständigen, dass dies echtes Leid ist? Welche individuelle Entwicklungsaufgabe und welches gesellschaftspolitische Ziel rechtfertigen den Schmerz dieses Kindes? Es mag sie geben, doch Ihre Reportage bleibt uns die Antwort schuldig.
Die verurteilte Gesellschaft
Missverstehen Sie bitte nicht unser Anliegen. Uns geht es nicht um die Rechtfertigung der Medikation als wichtigster oder gar einzig bedeutsamer Form der Therapie der ADHS. Ihr Schreiben über die „Pille“ stellt jedoch mehr in Frage als nur einen in weltweit über eintausend kontrollierten Studien erprobten Wirkstoff. Es diskreditiert vielmehr in unverständlicher Weise die Kinder, Eltern und Ärzte, schließlich auch die Gesellschaft, in der es ADHS und MPH gibt. In ihrer Darstellung sind alle „am Ende“ – Kinder, die ohne die Medikation bemitleidenswerte Plagen, mit Medikation auf ihre soziale Funktion reduzierte, emotionslose Maschinen seien; Eltern, die ohne den Hebel der Chemie als Erzieher wirkungslos erscheinen, in ihrer meist schweren Entscheidung für die medikamentöse Behandlung ihrer Kinder hingegen verantwortungslos; Ärzte, welche die Diagnose zu schnell, zu unüberlegt, zu unfundiert stellten, jenseits der Tabletten hilflos agierten, sich im Verschreiben der Stimulanzien jedoch sogleich zu willfährigen Handlangern einer übermächtigen Pharmaindustrie machten.
Das Bild der Gesellschaft, das Sie entwerfen, mutet an, als seien alle das Produkt ihrer Verhältnisse, die Kinder, Eltern, Ärzte und Therapeuten, nur Sie und Ihr voyeuristischer Blick auf die anderen nicht. Steht es Ihnen tatsächlich zu, darüber zu befinden, dass Kinder jeden Schmerz erdulden müssen, damit sie „Zugang finden zu ihren Gefühlen“? Ihr „Auf der Alm gibt es keine Pillen“ klingt so unehrlich wie der Titel eines Heimatfilms, der antritt, das Gegenteil zu beweisen. Zugleich ist dieser Satz entlarvend ehrlich, was das Niveau der gesamten Reportage anbelangt. „Hier sind ein paar Menschen, die glauben, dass man Kinder nicht betäuben sollte, wenn sie Schwierigkeiten machen“, schreiben Sie in der nächsten Zeile und suggerieren, dass der gemeine Rest der Gesellschaft im Umgang mit Kindern nur die eigene Ruhe sucht. So sehr sind wir alle „am Ende“?
Der implizite Vorwurf an all die Eltern, Lehrer und Erzieher, die verhaltensauffällige Kinder im Alltag der Familien und Schulen lieben, schützen und fördern, wo und wie sie nur können, ist ungeheuerlich! MPH ja oder nein zur Gretchenfrage eines humanen Menschenbildes zu machen, ist nicht nur unsinnig, sondern unseriös. Ihre Haltung offenbart die eigentlichen Intentionen eines Journalismus, der sich in vorwurfsvoller Pose gefällt, selbst aber nichts dazu beiträgt, das Leben der Betroffenen jenseits der Kunstwelt einer Almhütte zu verbessern. Warum auch, wenn mit dem Klischee des Heimatfilms mehr Aufmerksamkeit zu erzielen und damit mehr Geld zu verdienen ist als mit der bitteren Wahrheit, dass es auch Ihre Aufgabe gewesen wäre, für bessere Kindergärten und Schulen, gesunde Wohnverhältnisse und familienfreundliche Arbeitsplätze einzutreten. Und über die ADHS aufzuklären, die unabhängig von Erziehung, Klassengröße und Gesellschaftssystem existiert!
Hilfen für ein Leben im Hier und Jetzt
Ungeachtet der positiven Wirkungen, die das Almprojekt auf seine jungen Teilnehmer gehabt haben mag, werden auch die sich eines Tages fragen, wer und was ihnen in ihrer Kindheit am besten gefallen, am stärksten geschadet, am meisten geholfen hat. Sie werden sich in unterschiedlicher Einsicht und Ehrlichkeit Rechenschaft darüber ablegen, wer ihnen beistand, als die Not groß war – und groß war sie in der Familie, in der Schule, in der Freizeit mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Dort sind keine Eltern mit endlosen Kräften, keine Privatlehrer und keine nachsichtigen Gleichaltrigen! Dort sind keine Schutzräume einer klugen Pädagogik, die Ort und Zeit beliebig wählen und gestalten können! Dann werden sich die ehemaligen Problemkinder Rechenschaft darüber ablegen, was ihnen geholfen hat, als sie mit ihren Problemen alleine waren, wie wir alle in unserem Leben mit vielen Nöten zwangsläufig alleine sind. Werden diese Menschen dann sagen, das Almprojekt hat ihre Eltern entlastet und ihre Familien befriedet? Werden sie sagen können, acht Wochen Sonderleben auf der Alm haben ihre Schulleistungen verbessert und ihnen den Zugang zum Wunschberuf geschaffen? Werden sie sagen, dass die neuen Freunde der isolierten Zwangsgemeinschaft in den Bergen die Klassenkameraden zuhause verständiger, die Nachbarskinder toleranter gemacht haben?
„Die Erwachsenen machen einen großen Fehler: Sie regeln immer alles für einen!“, sagt Janis in Ihrer Reportage. Er hat Recht und straft Herrn Hüther Lügen, der ein paar Zeilen weiter oben mit der Aussage zitiert wird, dass Kinder heute „viel zu früh viel zu groß“ sein müssten. Nein! Sie werden vielmehr klein gehalten in Kunstwelten von Bilderbuchfamilien, Förderschulen und Therapieprogrammen. Wie viel Selbständigkeit verlangen Aufstehen und Schulweg im Vergleich zur früheren Arbeit von Kindern in ihren Großfamilien, auf Bauernhöfen und in Werkstätten?! Um wie viel stolzer aber konnten diese Kinder nach ihrem Tagwerk sein im Vergleich zu einem belanglosen Alltag in pädagogisch-therapeutischen Sonderzonen ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit, abgeschottet von der Arbeitswelt ihrer Eltern, isoliert vor Fernsehbildschirmen und Computermonitoren, deren Programme die Kinder sich nicht wirksam und für die Welt der Erwachsenen wichtig erleben lassen, egal, wie wertvoll ihre Inhalte sein mögen.
In diesem Sinne ist das Almprojekt letztlich eine weitere Extrawelt, die für sich genommen ein schönes Erlebnis sein mag, für das Leben im Tal jedoch nur soviel bedeutet, wie die Erfahrung der besonderen Gemeinschaft die Konditionen des Alltags überdauert. Vier Wochen gemeinsam mit dem Vater an dessen Arbeitsplatz, zwei Wochen der ununterbrochenen Anleitung von Mutter und Kind in deren häuslichen Alltag – und umgekehrt! – hätten den Teilnehmern weitaus mehr geholfen. Streitende Eltern brauchen eine Beratung, die ihnen klar macht, wie verheerend ihr Streit auf die Kinder wirkt! Kindern behinderter Eltern muss man zeigen, wie sie Mutter oder Vater helfen können, ohne sich selbst zu überfordern, weil sie helfen wollen! Und von der ADHS Betroffene muss man behandeln, wenn ihre Disposition sie in unserer Gesellschaft zu Außenseitern und Verlierern macht und wir diese Gesellschaft nicht hier und jetzt für dieses Kind und seine Familie ändern können!
Zu wenig Respekt vor Kindern
bdquo;Meist zu wenig Zeit für Kinder“, wird am Ende Ihrer Reportage Prof. Glaeske zitiert. Vielleicht ist das richtig, wenn man einer Aussage, die sich selbst durch ein „meist“ relativiert, überhaupt zustimmen oder sie ablehnen kann. Was jedoch uneingeschränkt gilt, ist, dass unsere Gesellschaft zu wenig Respekt vor Kindern hat. Gerade durch ihre bemühte pädagogisch-therapeutische Aufmerksamkeit, häufig auch ein Zuviel an Zeit, hat sie ganze Teile einer Generation marginalisiert. Sie hat sie in Sonderschulen, sonderpädagogische Betreuungsprogramme und besondere Therapien abgedrängt, weil sie im ökonomisch rationalisierten Alltag von Regelschulen stören, außerhalb von Kinderzimmer und Hort gefährdet erscheinen, ohne Therapien nicht schnell genug lesen, schreiben, rechnen und sich in Gruppen einfügen können.
Unsere Gesellschaft hat Ansprüche an Kinder und ihre Eltern geschaffen, die immer weniger Familien einlösen können, weil wir unser Geld nicht auf Almhütten verdienen, nicht mehr in ländlichen Großfamilien oder unter dem Schutz von Zünften und Nationalökonomien leben. Aber auch, weil wir einem Menschenbild verhaftet sind, das die Talente des Einzelnen über den Nutzen für die Gemeinschaft stellt, das Besser-Wollen für unsere Kinder über unser eigenes erwachsenes Besser-Können. Zunehmend mehr verfallen wir der Illusion, dass die Beschränkungen unseres Lebens nur durch die sozialen Grenzen gegeben sind, nicht aber zugleich durch unser individuelles Streben und Vermögen. Manche haben die Verhaltensstörung zum Schatten der Hochbegabung erklärt, die Regelmissachtung zum genuinen Kreativitätszeichen, die ADHS zur Beziehungsstörung. Damit haben sie den gestörten Kindern auferlegt, ihre herausragende Begabung unter Beweis zu stellen, den Gruppenunfähigen den Sinn ihrer Ausgrenzung zu erklären, den von der ADHS Betroffenen ihre Eltern als emotionale Krüppel zu akzeptieren. Ist das nicht der denkbar erbarmungsloseste Anspruch an die nächste Generation? Ist das die neue „Sinn-Stiftung“?
Der Streit um die ADHS konnte nur deshalb so eskalieren, weil wir uns in fundamental verschiedenen Lagern gegenüberstehen: Menschen, die eine bessere Welt wollen, und anderen, die ein besseres Leben wollen. Beide Pole sind unerlässlich für die konstruktive Entwicklung einer Gesellschaft, die Ideale braucht, aber auch die Motivation des Einzelnen, diese Ideale anzustreben. Es genügt nicht, in Laboratorien das Paradies zu proben. Es braucht die realistische Hoffnung und die reale Chance eines jeden Kindes, jetzt in der gegebenen Gemeinschaft einen guten Platz zu finden, damit es das Wissen und die Kraft sammelt, um von diesem Platz aus das eigene Leben und die Wandlung der Gesellschaft aktiv mitzugestalten!
ADHS Deutschland e.V.
Dipl. Psych. Dr. Johannes Streif
Antwort der Redaktion "Gruner+Jahr AG & Co KG"
20.11.2009
Vielen Dank für Ihre Zuschrift vom 09.11.2009.
Die stern-Titelgeschichte: „Ritalin – Zeit des Erwachens" über das Experiment mit elf an ADHS erkrankten und im Alltag mit Ritalin behandelten Jungen auf einer Südtiroler Alm ganz ohne Medikamente, die „Sechs Fragen zum Ritalin", das Interview mit dem Pharmazeut Gerd Glaeske sowie das Editorial unseres Chefredakteurs Thomas Osterkorn: „Es geht auch ohne Pillen", veranlasste sehr viele Leserinnen und Leser, sich mit ihrer Meinungsäußerung an den stern zu wenden. Alle Schreiben wurden in der Chefredaktion, vom Autor Uli Hauser sowie im zuständigen Ressort mit Interesse gelesen und redaktionell ausgewertet. Leider ist es uns aus zeitlichen Gründen nur in Ausnahmefällen möglich, individuell auf geäußerte inhaltliche oder stilistische Kritik an diesem Beitrag, Pro und Contra-Stellungnahmen in Bezug auf Ritalin bzw. Methylphenidat-Therapie von/an AD(H)S erkrankten Kindern und Jugendlichen, Erfahrungsberichte betroffener Eltern, Kommentare von Ärzten und Heilpraktikern zu antworten. Auch auf Fragen, zusätzliche Informationen, alternative Therapie- oder Themenvorschläge und Veröffentlichungswünsche können wir generell nicht eingehen. Dafür bitten wir um Ihr Verständnis.
Im stern 47/2009 haben wir eine kleine, repräsentative Auswahl aus den eingesandten Leserzuschriften abgedruckt, in denen die häufigsten Argumente auf den Punkt gebracht wurden. Auch wenn Ihre Stellungnahme leider nicht darunter war, weil sie dafür zu spät in der Redaktion eintraf, fanden wir es wichtig und informativ, Ihre Ansicht zu diesem aktuellen Thema zu erfahren.
Mit freundlichen Grüßen