Medien

Hüther heute – ein Journal

Ein Kommentar zum Beitrag zu „Medikamente gegen die Unruhe?“ des ZDF heute-Journals vom 24.09.2012

„Beruf und Familie zu vereinen, die Kinder gut durch die Schule zu bekommen, das ist ja schon schwer genug.“ Aber das Zusammenleben mit verhaltensauffälligen Kindern … So beginnt die Anmoderation eines vierminütigen Beitrags des heute-Journals zu ADHS und Schule. Öffentlichrechtlicher Sender und ein seriöses Nachrichtenmagazin, das sich für seine Themen Zeit nimmt, möchte man glauben, seien Garanten einer ernsthaften Betrachtung durchaus ernstzunehmender Probleme. Doch weit gefehlt! Was dann gezeigt wird, ist ein weiteres Beispiel für die mediale Vermarktung einer Ideologie, in der die Sorge vieler Eltern um das Wohlergehen ihrer Kinder missbraucht wird, um Stimmung zu machen: gegen die ADHS. Doch wozu?!

Vordergründig handelt der Filmbeitrag von Sven, einem 14-jährigen Schweizer Jungen, der in Basel eine Privatschule für verhaltensauffällige Kinder besucht. Zuvor gaben seine Eltern ihm Medikamente, da die Regelschule dies nach Aussage der Eltern forderte und sie keine Alternative kannten. Das heute-Journal zeigt sodann eine Graphik des Methylphenidat-Verbrauchs in Deutschland während der letzten knapp 20 Jahre, die in suggestiver Manier wie die Entwicklung des Aktienkurses eines Pharmakonzerns anmutet, jedoch unerwähnt lässt, wer den Wirkstoff in welcher Form zu welchem Zweck verschrieben bekommt. Dass das Szenenbild der Medikamentenübersicht auch die Produktverpackung eines Präparats mit anderem Wirkstoff enthält, erscheint den Machern der Reportage mutmaßlich als lässliche Ergänzung, da es offenkundig hilft, die schiere Menge der Mittel eindrucksvoll zu illustrieren, die Kindern mit ADHS verabreicht werde.

Sven selbst spricht von ernstzunehmenden Nebenwirkungen: „Da bist du nicht du, das ist wie als hätte man Scheuklappen an, Du bist nur auf das konzentriert, Gefühle und alles sind abgeschaltet, Du bist eigentlich nur wie eine Maschine.“ Er schätzt seine neue Schule, in der er sich „viel freier“ und „mehr wahrgenommen“ erlebt. So hatte das der „Krawall-Neurologe“ (Zitat SPIEGEL Online) Prof. Hüther bereits 2009 für Frontal21 formuliert: „Kinder werden in den Schulen in gewisser Weise, wenn man es ganz hart sagt, abgerichtet oder funktionalisiert. Und wenn sie nicht funktionieren, dann muss man eben nachhelfen, das hat man früher mit Prügeln gemacht, und ich fürchte fast, dass das jetzt die Medikamente erreichen.“ Hüthers oberflächliche Existenzanalyse der Kindheit im 21. Jahrhundert ist zwar eine müde Synthese aus Hermann Hesses „Unterm Rad“ (1906) und Francis Fukuyamas „Our Posthuman Future“ (2003), doch beim ZDF scheint man dieses wohlfeile Unbehagen in der Schulkultur so sehr zu schätzen, dass man jede Gelegenheit nutzt, das Hüther´sche Weltbild zu promovieren.

Wieder fehlt alles, was eine seriöse Berichterstattung ausmacht: Die Ausgewogenheit der Interviewpartner; eine differenzierte Darstellung von Verhaltensauffälligkeit im Allgemeinen und ADHS im Besonderen; eine vorurteilsfreie Diskussion über die durchaus kontrovers zu beantwortende Frage, welche Bedeutung Psychopharmaka im Leben unserer Kinder haben sollen; eine seriöse Darstellung der Nebenwirkungen von Medikamenten, die im Fall des Methylphenidats durch die Aussagen des Jungen in keinster Weise repräsentiert werden; ein realistisches Bild von Schule, die im Mittel unserer Gesellschaft nicht so ist, wie Prof. Hüther sie beschreibt. Nebenbei: Die permanente Abwertung der zahllosen engagierten Lehrer an Regelschulen als willfährige Gehilfen eines vermeintlich rationalistisch-totalitären Schulsystems, das Kinder und ihre Eltern in die Abhängigkeit von Psychopharmaka treibe, ist unerträglich.

Ist das zu viel verlangt, zumal für einen Kurzbeitrag in einer Nachrichtensendung? Wenn ja, so macht es doch Sinn, im Vorfeld zu bedenken, dass vier Minuten nicht ausreichen, um die Themen Schule und ADHS und Medikation der Bedeutung der Sache angemessen abzuhandeln. Es sei denn, man wünscht von Anfang an eine tendenziöse Argumentationslinie, an deren Ende das Verdikt stehen soll: Kinder bekommen Tabletten, da die Gesellschaft zu bequem, zu geizig oder schlicht zu dumm ist, ihr Schulsystem zu reformieren. Vor diesem Hintergrund erscheint die zunächst eigentümlich wirkende Platzierung des Beitrags im heute-Journal durchaus stimmig. Das ZDF berichtet nicht über Politik, es macht Politik. Sowenig wie Frontal21 in Sachen ADHS einen Skandal aufdeckte, sondern vielmehr einen Skandal schuf. Für eine gute Zuschauerquote, die gleichermaßen von der voyeuristischen Betrachtung echten Leids wie von der Inszenierung vermeintlichen Elends profitiert, macht das offenkundig keinen Unterschied.

Brauchen wir tatsächlich schon wieder eine neue, wieder ach so andere Schule, wie Prof. Hüther sie offenkundig bar jeder Erinnerung an all die verkopften Reformen der zurückliegenden Jahrzehnte einfordert? Schließlich erkenne ich in den Schulen von heute, die ich regelmäßig besuche, die Grundschule und das Gymnasium meiner Kindheit kaum wieder, so sehr haben sie sich in den letzten 30 Jahren verändert. Damals wechselte mehr als die Hälfte meiner baden-württembergischen Grundschulklasse aufs Gymnasium, Dreiviertel hätten die Noten dafür gehabt. Klassenzimmer und Unterricht ähnelten mehr den Schilderungen aus der Grundschulzeit meines Vaters als der Situation in den deutschen Schulen des Jahres 2012. Es war meist ruhig in der Klasse, wir hörten zu, lernten viel und waren stolz darauf. Die Lehrer waren streng, doch selbst sie Älteren unter ihnen liebten ihren Beruf meist noch nach Jahrzehnten, was es ihnen leichter machte, uns Schüler zu mögen. Meine Eltern wären niemals auf den Gedanken gekommen, Lehrern zu sagen, wie sie ihre Arbeit zu erledigen haben; immerhin erhoben die Lehrer auch nicht den Anspruch, die Berufe der Eltern zu beherrschen. Und in einem waren wir Schüler, Lehrer und Eltern uns am Ende meiner Schulzeit im Jahr 1988 einig: Eine weitere dilettantische Schulreform, ausgehend von Universitätsprofessoren, Kultusbeamten und Politikern hätte unsere weitgehend glückliche Zwangsgemeinschaft endgültig erledigt!

Das ist meine Erinnerung. Andere haben in ihrer Schulzeit zu anderer Zeit und an anderem Ort Besseres wie auch Schlechteres erlebt. Es gibt so vieles, was in den Schulen unserer Tage verbessert werden kann. Das meiste und Wichtigste betrifft jedoch nicht Lehrplan und Schulverfassung, so sehr auch diese der Fortentwicklung bedürfen, sondern die Gestaltung des Unterrichts vor Ort. Hier sind die Hüther´schen Theorien und das verkürzte Beispiel einzelner Lebensläufe in Modellschulen keine sinnvolle Grundlage. In diesem Sinne wäre es schön, das ZDF strahlte einmal wieder den wunderbaren Film „Sein und Haben“ aus, eine preisgekrönte französische Dokumentation aus dem Jahr 2002 über eine französische Dorfschule in der Auvergne. Das würde zwar hundert weitere Minuten zu den vier des heute-Journal-Beitrags bedeuten, wäre dem immens wichtigen Thema Schule allerdings mehr als an angemessen.

Dr. Johannes Streif

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