Erfahrungsbericht einer Mutter zum Almprojekt der Sinnstiftung
Ich selbst bin nicht nur Mutter dreier Söhne, von denen die beiden jüngeren von ADHS betroffen sind, sondern auch Kinderärztin und ADHS-Elterntrainerin. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich nun schon beruflich mit dieser Problematik und erlebe sie auch täglich hautnah zu Hause. Wir haben in erster Linie Probleme in der Schule, manchmal auch Zuhause, aber meine Jungs sind im Wesentlichen fröhliche, glückliche Kinder, die in einer ziemlich behüteten Umgebung aufwachsen.
Das Alm-Projekt wurde an uns von der Lehrerin meines Jüngsten herangetragen und klang zunächst sehr vielversprechend. Man starte ein Pilotprojekt, bei dem man Kindern mit der kinder- und jugendpsychiatrisch anerkannten Diagnose ADHS im Rahmen eines 8-wöchigen Aufenthalts in den Sommerferien auf einer Alm in der Natur und im Umgang mit Tieren helfen will, ihre sozialen Kompetenzen, Selbstmanagement, Organisation und exekutiven Funktionen zu verbessern. Das Projekt würde von einer Stiftung gesponsert werden. Die Eltern würden eng in das Leben auf der Alm mit ihren Kindern durch regelmäßige Besuche einbezogen werden.
Meine beiden Jungs (10 und 8 Jahre alt) waren hellauf begeistert und wollten dort unbedingt hin. Aber es kam letztlich vieles ganz anders. Erst zehn Tage vor Projektbeginn bekamen wir die Zusage, dass unsere Kinder ausgewählt worden waren, daran teilzunehmen. Eine Woche vor dem geplanten Start hatte ich dann den Vertrag in den Händen, in dem am Ende plötzlich 2.000 Euro pro Kind als „kleiner Unkostenzuschuss“ verlangt wurden, ohne dass dies im Vorgespräch erwähnt worden war. Ferner störte mich, dass es in dem Vertrag hieß, man verpflichte sich, die Medikation mit Methylphenidat (MPH) abzusetzen und auch nach der Almzeit möglichst nicht wieder aufzunehmen. Ich selbst hatte die Sache niemals als Alternative zur Medikation gesehen, sondern als einen Baustein in einem multimodalen Therapiekonzept.
Es schneite, als wir unsere Kinder Mitte Juli in Südtirol verabschiedeten und sie mit dicken schweren Rucksäcken bepackt auf 2400m hochstiegen. Bei der Verabschiedung von uns Eltern sagte man den Kindern: „Du wirst als völlig anderer Mensch wieder zurückkehren!“ Sie gingen in eine wunderbare, wildromantische Landschaft, fernab von jeder Zivilisation. Sie haben auf der Alm wohl im Wesentlichen „Überlebenstraining“ gemacht, sich den ganzen Tag im Freien aufgehalten mit 2 Hunden, 2 Eseln, 1 Kuh, 1 Herde Rinder, 3 Hühnern, 1 Hahn und etlichen Kaulquappen. Die Tiere wurden versorgt und die Kuh gemolken. Mein 10-jähriger berichtete, er habe oft stundenlang auf der Wiese unter dem Esel gelegen und ihn mit Disteln und Löwenzahn gefüttert und dabei vor sich hin geträumt. Es wurde wohl auch viel gesägt, gehämmert und gebaut, unter anderem, um ihre Hütte überhaupt bewohnbar zu machen. Ferner wurden ein Tipi gebaut und Trommeln gebastelt, um dann gemeinsam Rhythmen zu trommeln. Abends fanden Gesprächskreise am Lagerfeuer statt. Die Ernährung war streng öko-biologisch und zuckerfrei.
Ich wähnte die Kinder oben am Berg in einer gemütlichen, warmen Hütte und war entsetzt, als wir nach drei Wochen zum ersten und einzigen mal zu Besuch kommen durften und ich feststellte, dass oben auf dem Berg 16 Menschen in einer winzigen Hütte von etwa 40m² ohne Strom, ohne sanitäre Anlagen und ohne Heizung lebten. Die kleine Hütte war völlig verrußt und verraucht, weil der Ofen immer wieder eine dicke Portion Rauch in die Hütte blies. Die Kinder waren verwahrlost: Sie kämmten sich in der ganzen Zeit so gut wie nie die Haare, putzten nur höchst selten die Zähne, da dies bei zuckerfreier Ernährung angeblich nicht so wichtig sei, und wuschen sich nur gelegentlich an einem Kuhtrog. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie dabei hatten, wurden in den 8 Wochen kein einziges Mal richtig gewaschen.
Auch die Gesundheitsfürsorge stimmte nicht. Obwohl in den ersten 2 Wochen fast alle Kinder Durchfallerkrankungen hatten und später eine hochfieberhafte Streptokokkenangina die Runde machte, wurde weder ich als Kinderärztin, die sich erboten hatte und außerdem ein „medizinisches Notfallpaket“ auf Bitten des Veranstalters zusammengestellt und mitgegeben hatte, noch ein anderer Kinderarzt je um Rat gefragt. Mein Kleiner unternahm fünf Wochen lang mit einer Streptokokkeninfektion körperliche Höchstanstrengungen. Antibiotika lehnte man nämlich genauso ab wie MPH. All dies erfuhr ich jedoch erst im Nachhinein, da man uns Eltern jeglichen Kontakt zu unseren Kindern untersagte. Angeblich habe man auf der Alm auch keinen Handyempfang – meine Kinder berichteten jedoch, dass man einige Meter von der Hütte entfernt durchaus gut hatte telefonieren können.
Am Elternbesuchswochenende sind einige Kinder komplett dekompensiert. Sie schüttelten sich vor Heulkrämpfen oder blickten apathisch ins Leere und flehten ihre Eltern an, sie mitzunehmen. Ein 13-jähriger drohte mit Suizid, wenn seine Eltern ihn nicht mitnähmen, was mir als nicht völlig zu unterschätzende Gefahr erschien. Man nahm diese Gefühlsabstürze der ADHSler aber gar nicht wirklich ernst.
Im Übrigen erschütterte mich auch, wie wenig informiert die Projektleiter über ADHS waren. Man versicherte uns Eltern, man habe ein Ärzteteam im Hintergrund, falls es zu Entzugserscheinungen nach Absetzen der Medikation kommen sollte, was medizinisch ein Quatsch ist. Auch erzählte man mir, meine Söhne hätten gewiss kein ADHS, da sie stundenlang ganz konzentriert Kaulquappen aus dem Bächlein vor der Hütte retten könnten. Man betonte immer wieder, wie wunderbar und einzigartig diese Kinder alle wären, und kehrte die Probleme im Alltag und in der Schule schlichtweg unter den Tisch. Ganz subtil wurde uns wiederholt suggeriert, dass die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder nur durch mangelnde Akzeptanz durch uns Eltern und unsere Erziehungsunfähigkeit zustande kämen.
Bei den so genannten Elterntrainings handelte es sich im Wesentlichen um spirituelle Kreise, in denen wir angehalten wurden, „traumatische Erlebnisse mit unseren Kindern“ zu berichten und uns alle als Gruppe zusammengehörig zu fühlen. Sie wirkten sehr ideologisch, dabei wenig sachlich und seriös.
Einmal in der Woche bekamen wir Post von der Alm, die ziemlich nichtssagend war, außer dass man unsere Kinder in ihrer Einzigartigkeit jedes Mal in den Himmel lobte. In der letzten Almpost hieß es dann: „Oft waren wir zu dritt ausschließlich beschäftigt mit Begleitung der alltäglichen Aufgaben. Hier müssen wir aus unserer Sicht deutlich machen, dass mehr als sichtbar wird – jeden Tag mehr – dass es sich bei diesen Kindern nicht um ADSler handelt! Ob es generell AD(H)S als Krankheit gibt, wird die Zukunft entscheiden. Hier oben ist aber sehr deutlich geworden, dass es eine sehr große Menge an Defiziten gibt, die nicht begründet liegen in einer Krankheit oder gar in einem genetischen Anteil.“ Eine ziemliche Anmaßung von weder psychiatrisch noch psychologisch qualifizierten Betreuern, v.a. angesichts des Einschlusskriteriums für die Teilnahme, das eine fundierte kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose der ADHS war. Uns war auch ein umfassender abschließender Bericht über unsere Kinder versprochen worden, den ich bis zum heutigen Tage noch nicht bekommen habe. Ferner haben sich mehrere Eltern beklagt, dass keinerlei fundierte Nachbetreuung stattfand.
Am Ende der Ferien kehrten meine Kinder Gott sei Dank zwar völlig verdreckt und verwahrlost, aber ansonsten fröhlich und wohlbehalten wieder nach Hause zurück. Abgesehen von den Streptokokken und Karies bemerkte ich auch einige positive Aspekte. So hatten die acht Wochen zusammen auf der Alm fernab von ihren Eltern sie als Geschwister zusammengeschweißt. Sie stritten – zumindest in der ersten Zeit – deutlich weniger miteinander. Sie waren durch die Erfahrung auf der Alm auch ein Stück erwachsener geworden. Insbesondere in ihren kommunikativen Fähigkeiten und im Sozialverhalten waren sie kompetenter geworden. Dies scheint besonders einem der anwesenden Betreuer zu verdanken zu sein, der sich in zahlreichen Gesprächskreisen mit den Kindern sehr um deren soziale Kompetenzen bemühte.
Leider sind die Probleme in der Schule und bei den Hausaufgaben genau dieselben geblieben. Ohne Medikation ging es bei meinen beiden, wie schon zuvor, bevor sie sie nahmen, irgendwie, geradeso, äußerst mühsam. Wir sitzen jeden Nachmittag zwei bis vier Stunden lang an den Hausaufgaben, die normalerweise in höchstens einer Stunde erledigt werden können. Wir rufen täglich bei den Klassenkameraden an und fragen nach Hausaufgaben, die vergessen wurden aufzuschreiben. Wir fahren fast täglich nachmittags noch mal in die Schule und holen vergessene Materialien ab. Einer der Jungs bekommt in einer Mathearbeit mit null Fehlern die Note 4, weil er die letzten Aufgaben schlichtweg nicht geschafft hat.
Mein Größerer hat sich entschlossen, zunächst ohne Medikation weiterzukämpfen. Mein Kleiner bekommt inzwischen auf eigenen Wunsch wieder Methylphenidat, da ihm alles so fürchterlich mühsam war ohne Medikation und er womöglich trotz hoher Intelligenz die Versetzung in die 4. Klasse nicht geschafft hätte. Unser Alltag, der ohne MPH chaotisch, mühsam und zäh wie Kaugummi war, ist dadurch wieder ein bisschen leichter geworden. Und mein Sohn hat sich seither zweimal riesig freuen können über fehlerfrei geschriebene Arbeiten, in denen er Klassenbester war!
Meinen Kindern geht es damit noch verhältnismäßig gut. Den meisten anderen Teilnehmern des Projekts, von denen ich seitdem gehört habe, geht es wesentlich schlechter. Sechs der Jungen droht inzwischen ohne Medikation der Rausschmiss aus der Schule oder sie haben die Schule bereits gewechselt. Vier Jungen, mein Sohn eingeschlossen, bekommen inzwischen wieder Medikamente. Fünf Jungen hatten allerdings bereits vor Beginn des Almprojekts aus Gründen der Überzeugung keinerlei Medikation bekommen. Ein großes Problem ist meines Erachtens, dass sich viele Eltern haben einreden lassen, sie würden ihren Kindern mit der Medikation etwas Schlechtes tun. Die Hemmschwelle, die Medikamente trotz größter Probleme im Alltag wieder einzusetzen, ist nun für manche Eltern riesengroß geworden. Andere sind gar stolz darauf, dass sie trotz Rausschmiss aus der Schule ohne Medikation durchhalten. Meines Erachtens hat sich kein einziges Kind durch das Almcamp in seiner ADHS-Symptomatik gebessert!
Als Antwort auf die Sorgen einer Mutter bezüglich der schulischen Schwierigkeiten ihres Sohnes schrieb der Projektleiter folgende Zeilen: „Macht euch keine Sorgen. Ihr habt ein solches Ausnahmekind, er wird seinen Weg machen. Wo ist das Problem? Schulnoten, Gefahr des Rauswurfs …? Lapidar gesagt: na und? Er macht seinen Weg.“ Und an anderer Stelle: „Ich hoffe für X, dass er von der Schule fliegt.“ Das kann wohl kaum die Lösung für all die Kinder in unserer Gesellschaft sein, die von der ADHS betroffen sind.
Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass mich das Almprojekt sehr enttäuscht hat. Einzelne Personen haben sich durchaus sehr für das Wohlergehen der Kinder engagiert und haben ihnen auch gewisse soziale Kompetenzen vermittelt. Dies wäre jedoch von jeder sozioedukativen Maßnahme zu erwarten gewesen über einen so ausgedehnten Zeitraum. Als ergänzender Therapiebaustein im Rahmen eines multimodalen Behandlungskonzepts wäre einiges an dem Ansatz durchaus positiv gewesen. Insgesamt war das Ganze jedoch chaotisch organisiert, Hygiene und Gesundheitsfürsorge waren mangelhaft. Die Probleme der Kinder wurden auf die Erziehungsunfähigkeit der Eltern geschoben. Das Hauptanliegen schien im Rahmen eines riesigen Medienrummels eine Kampfansage an die Schulmedizin zu sein. Zum einen wollte man die in Fachkreisen längst unstrittig anerkannte Diagnose der ADHS in Frage stellen. Zum anderen lehnte man die inzwischen sehr gut untersuchte und als effektiv anerkannte medikamentöse Therapie der ADHS grundsätzlich ab. Im Grunde war es von vornherein egal, was beim Alm-Camp tatsächlich herauskommen würde, denn das Ergebnis stand für die Organisatoren von vornherein fest: um jeden Preis keine Tabletten.
Auf die Frage ob sie nochmals bei so einem „Almabenteuer“ mitmachen wollten, sagten meine beiden Jungs ganz klar: „Nächsten Sommer wollen wir viel lieber wieder mit dir in Urlaub, Mama.“
Maru Bohdansky