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Anmerkungen zur Medienberichterstattung zum Barmer GEK „Arztreport 2012“

Im Kontext der Veröffentlichung des „Arztreport 2012“ der größten deutschen Krankenkasse Barmer GEK im Januar 2012 sind in zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und Internetportalen z.T. umfangreiche Berichte und Kommentare erschienen. Überraschend ist dabei, dass ein Großteil der medialen Aufmerksamkeit einmal mehr der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zukommt, obwohl diese im aktuellen Arztreport selbst gar keine Erwähnung findet. Dieser widmet sich im Schwerpunkt „Kindergesundheit“ vielmehr den akuten Infektionen der oberen Atemwege, der Neurodermitis sowie den umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache.

„Schuld“ daran hat der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, Rolf-Ulrich Schlenker. Der hat bei der Vorstellung des Arztreports – laut Deutscher Presse-Agentur (dpa), deren Meldung die meisten Zeitungen und Internetportale weitgehend unverändert abdruckten – die Sprachentwicklungsstörungen mit der ADHS in Verbindung gebracht. Und sprach, darf man der dpa glauben, im Zusammenhang mit beiden Diagnosen von „Modekrankheiten“. Seine weiteren Ausführungen zu den „auffällig hohen Diagnosen“ lassen allerdings darauf schließen, dass er mit dem Begriff der Mode im Grunde nicht die Krankheiten, sondern ihre zuletzt stark angestiegenen Diagnosehäufigkeiten infrage stellte. „Vermutlich treiben die begrüßenswert hohen Vorsorgeraten diese Diagnosen zusätzlich nach oben“, zitiert ihn die dpa, was das Grunddilemma jeder Krankenkasse zum Ausdruck bringt, die sich die bestmögliche medizinische Versorgung ihrer Mitglieder bei geringstmöglichen Behandlungskosten wünscht.

Was sodann die Journalisten jener Publikationen auf dem Papier und im Netz aus der dpa-Meldung machten, mutet ein bisschen nach „stiller Post“ an: Ein wissenschaftlicher Report, der nichts zur ADHS sagt, wird durch einen Krankenkassenvertreter popularisiert, der weiß, wie gerne die Medien über die ADHS schreiben. Die dpa schreibt geflissentlich einige Zeilen über die ADHS, welche von den Redakteuren jener Publikationen allzu gerne aufgegriffen und ins Zentrum gerückt werden, die von der Presseagentur abhängen, da sie anscheinend selbst kaum mehr recherchieren. Nun erscheinen z.B. unter der Überschrift „Die neuen Kinderkrankheiten sind teuer“ Veröffentlichungen aus dritter Hand, welche sich fast ausschließlich mit der ADHS befassen – und dabei so tun, als gäbe ihr Text die Befunde des Arztreports der Barmer GEK wieder.

Kostprobe gefällig: „Wie wirkt Ritalin? Egal, wie die wirkliche Lage ist – das Kind ist meist guter Laune. Doch das Kind unterdrückt die realen Gefühle nur.“ Das ist psychologisch, neurologisch und pharmakologisch falsch, und es widerspricht zudem jeder Alltagsbeobachtung von Fachleuten und Laien. Diese Aussage ist so unsinnig, dass ihr Autor kein Kritiker der Medikation sein kann, da er offenkundig weder das Störungsbild noch Betroffene kennt. Mancher Journalist kramt nun die bereits vor einem halben Jahr in vielen, leider auch renommierten Magazinen falsch wiedergegebene Studie des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Todd Elder aus dem Archiv, der Berechnungen zu Einschulungsalter und ADHS-Diagnose in den USA anstellte. Auch Herr Schlenker von der Barmer GEK scheint diese Studie im Hinterkopf zu haben, wenn er spekuliert, dass das spätere Einschulungsalter im „Schwabenländle“ die dort geringere Zahl von „Sprachstörungen bei Schulanfängern“ erkläre. Dass die medizinischen Zusammenhänge komplizierter sind als statistische Korrelationen, hat Elder bereits in seiner ursprünglichen Publikation angemerkt. Auch die Autoren des „Arztreports 2012“ würden sich auf Nachfrage zweifellos gegen die politische Vermarktung ihrer Studie verwahren.

Um es einmal mehr in Kürze zu sagen: Die wissenschaftliche Befundlage zur ADHS ist in zentralen Punkten eindeutig! Die ADHS beruht auf einer überwiegend genetisch vermittelten, jedoch durch Umwelteinflüsse und Erziehung veränderlichen neurophysiologischen Disposition der Verhaltenssteuerung. Sie ist keine Modeerkrankung, wohl aber eine ungünstige Voraussetzung, um angesichts der tausendfachen Ablenkungen in den multiplen Zwangsgemeinschaften der modernen Infor­ma­tionsgesellschaft zu bestehen. Die ADHS ist weder Folge noch Ausdruck eines Leidens in Familie, Schule und Beruf – sie ist ein Grund unter vielen für menschliches Leid in menschlicher Gemeinschaft. Wir können die ADHS behandeln; nicht allein, doch in ihrer neurobiologischen Disposition erfolgreich auch durch die Medikation. Wollen wir aber das Leid der Betroffenen lindern, so braucht es mehr als die Anpassung des Einzelnen. Es braucht bessere Schulen, nicht eine pauschal spätere Einschulung; es braucht eine qualifizierte ärztliche und therapeutische Versorgung, nicht mehr oder weniger Geld für unflexible Gesundheitssysteme. Vor allem aber braucht es Gemeinschaften, für die es sich anzupassen und zu leben lohnt!

Was bleibt zum Medienhype um den Arztreport abschließend anzumerken? Dass es sich zu lesen lohnt! Zum einen den „Arztreport 2012“ der Barmer GEK selbst, der sich auf den Seiten der Krankenkasse findet. Zum anderen die Stellungnahme des ADHS Deutschland e.V. zur Studie von Todd Elder und anderen Publikationen der letzten Jahre. Schauen Sie regelmäßig auf unseren Seiten vorbei und informieren sie sich aus erster Hand.


ADHS Deutschland e.V.
Dr. Johannes Streif

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