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ARD-Reportage „Pillen für den Störenfried“

„Pillen für den Störenfried?“ hieß ein von dem Pädagogen Reinhard Voß 1983 in erster Auflage herausgegebener Sammelband. Voß ist ein Urgestein der Kritik an ADHS und medikamentöser Behandlung in der deutschen Medienlandschaft. Sein gemeinsam mit Roswitha Wirtz, der Mutter eines hyperaktiven Jungen, geschriebenes Buch „Keine Pillen für den Zappelphilipp“ verzichtete einige Jahre später auf das schamhafte Fragezeichen des Sammelbands. Aus der hinterfragten Option medikamentöser Behandlung von Verhaltensstörungen wurde ihre klare Ablehnung – und aus der Unbestimmtheit des Störenfrieds die Anspielung auf eine bestimmte Diagnose. Mit dem Zappelphilipp wurde die ADHS auch im Titel des erfolgreichen zweiten Buchs zum eigentlichen Gegenstand, obschon ihr Konzept als neurophysiologische Störung weiterhin bestritten wurde.

Dass Sylvia Nagel, die Autorin der am 07.05.2012 erstmals ausgestrahlten ARD-Reportage „Pillen für den Störenfried“, oder aber die Redakteure der Reihe den Voß’schen Titel aufgriffen, nimmt dem Film über drei Jungs mit ADHS schon in der Überschrift seine Neutralität. Mag sein, dass der dumme Begleittext auf der Internetseite der ARD nicht der Feder der Filmemacherin entstammt. Dennoch ist seine Lektüre ein Vorgeschmack auf den tendenziösen Unterton, welcher die Off-Kommentare des 45-minütigen Films kennzeichnet. Freilich erreichen diese nicht die Naivität und Polemik der reißerischen Einführung in die Reportage. „Was früher der Rohrstock war, ist heute die Psychopille“ steht da in unbewusster Anspielung auf den US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der vor rund 30 Jahren zunächst das Antidepressivum Prozac und später Ritalin als das Soma der Gegenwart bezeichnete. In dieser vermeintlichen „Brave New World“ des pharmaziegestützten Besserfühlens werde der Mensch nicht mehr durch die Knute, sondern durch die Tablette gefügig gemacht. Da nimmt es nicht wunder, dass manch Protagonist der aktuellen ADHS-Kritik dieses gleichermaßen eingängige wie falsche Bild dankbar aufgriff, obgleich die verbesserte Selbststeuerungsfähigkeit ADHS-Betroffener durch Methylphenidat das genaue Gegenteil von der gewaltsamen Außensteuerung früherer Zeiten ist.

Leider ist auch der Film nicht frei vom Vorurteil über eine Gesellschaft, die Kinder nicht mögen soll, die pauschal ausgrenze, was sie nicht zu integrieren vermag. Die schlichte Wahrheit in der Aussage von Tims Großmutter, dass viele Eltern kleinlich geworden seien und die natürlichen Konflikte der Kinder zu ihrer eigenen erwachsenen Sache machten, wird als Beleg für eine allgemeine Intoleranz gegenüber kindlichem Verhalten inszeniert, das nur auffällig sei, weil andere es problematisieren. Was diese Intoleranz ausmacht, wird hingegen nicht thematisiert. Dabei bot nachgerade Philipps Geschichte eine gute Gelegenheit, nachzufragen: Wie kann es sein, dass ein schulpflichtiges Kind seit zwei Jahren nicht beschult wird? Da sieht man einen braven Jungen neben seinen Eltern zum Eingang einer Privatschule trotten, die ihn aufnehmen würde, doch die Eltern lehnen das Angebot aufgrund der Klassenstärke ab – warum? Später wird Philipp vorzeitig aus der Klinik entlassen, da es Konflikte mit einem anderen Kind gegeben habe; ist das ein Entlassungsgrund für eine Einrichtung, die sich nachgerade der Therapie verhaltensauffälliger Kinder verschrieben hat?

So wenig, wie Philipps Geschichte für den Zuschauer verständlich ist, so wenig ist das mediale Interesse an der ADHS insgesamt nachvollziehbar. Geht es wirklich darum, Kinder und ihre Probleme darzustellen? Oder dient die ADHS nur als Vehikel für den Transport gesellschaftspolitischer Ideen, die einer gemeinsamen Grundtendenz folgen: Die „schöne neue Welt“ als Konstrukt ominöser Mächte zur Anpassung, Beherrschung und Ausbeutung zu entlarven und sich selbst als besserwissenden Propheten in der Wüste ins Szene zu setzen?! Mehrfach betont die Stimme des Off-Tons, wie „mutig“ die Entscheidung von Tims Eltern gegen die Medikation sei, wie „mühsam“ und „hart“ deren Weg, „denn viele Ärzte empfehlen Tabletten“. Das klingt ein bisschen so, als sei der Verzicht auf die medikamentöse Therapie der ADHS mit dem Bekenntnis zum Christentum unter Diokletian gleichzusetzen.

Demgegenüber rückt die Szene mit Luis und dessen Mutter, als er „Ich will aufs Gymnasium“ schreiben soll, die Tabletten befürwortenden Eltern in das Licht einer anpassungs- und leistungsgeilen Elitepädagogik. Das hiermit aufgerufene Klischee spielt seit Jahren erfolgreich mit dem Zerrbild der asiatischen Tigermama, die ihre Kinder mit brachialen Erziehungsmethoden auf Erfolg trimme, während im den Wirtschaftsboom antreibenden städtischen China zwei Großelternpaare das einzige Enkelkind einer seit einem halben Jahrhundert geltenden Ein-Kind-Politik verhätscheln. Mit von Großverlagen gezielt geschaffenen und vermarkteten Provokationen einer die Stofftiere ihrer Töchter misshandelnden Juraprofessorin (Amy Chua) oder eines über eine vermeintlich verlorene Generation tyrannischer Kinder winselnden Kinder- und Jugendpsychiaters (Winterhoff) wird eine gesellschaftspolitische Grundstimmung befördert, in der Erziehungsstile wie Modestile inszeniert und diskutiert werden. Der „Gegenstand“ der Erziehung, das Kind, wird mehr und mehr zum reinen Illustrationsobjekt populistischer Thesen auf einem Medienjahrmarkt beliebiger Meinungen. Hauptsache, die Geschichte verkauft sich.

Mit misstrauischem Bedauern erklärt die Off-Stimme gegen Ende der Reportage, Luis Eltern hätten nicht erlaubt, den Sohn jenseits der Wirksamkeit der Medikation zu filmen. Nur dann jedoch könne man den Jungen erleben, wie er „eigentlich“ sei. Auch der Psychologe, den Tim zur Gruppentherapie besucht, stößt in dieses Horn: Würden Kinder medikamentös behandelt, zeigten sie das Verhalten nicht, das zu verändern man mit ihnen üben müsse. Hinter beiden Aussagen verbirgt sich eine fatale Mischung aus Neoromantik und Laienpsychologie, als sei der Mensch in seinem natürlichen Wesen das von Impulsen getriebene schlauste Tier der Evolution, das in jedem Kind neu gezähmt werden müsse, bis es mit eigenem Verstand und eigener Vernunft die Einsicht in die Regeln der Gesellschaft gewinnt. Wie hatte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vor drei Monaten getitelt: „Wo die wilden Kerle wohnten“ – und wollte damit (hier in den Worten des Kabarettisten Rüdiger Hoffmann) sagen: „So sind Kinder nun einmal, die leben ihre Emotionen noch aus“, als Malte, Ruben und Torben seines Sketches gerade den Tischnachbar im Lokal umbringen.

Ist das so? Sind wir unsere Angst und Wut? Sind wir dann gleichermaßen die Vermeidung und Zerstörung, die aus dieser Angst und Wut resultieren? Sind wir die Verzweiflung, die uns nach Schicksalsschlägen erfasst, oder sind wir die Hoffnung, die kurz zuvor noch unser Leben bestimmte? Sind wir unsere Krankheiten und Behinderungen oder sind wir nicht vielmehr der Mensch, der wir ohne Krankheit waren und ohne Behinderung sein könnten? Sind wir das Kind und sollten es bleiben, welches das Spiel der Schule, den Moment der Planung, die egoistische Selbstentfaltung der sozialen Anpassung vorzieht? Sind wir die ADHS – oder sind wir, blicken wir nach einer Kindheit voller Leidenschaft, Wut und Streit in einem Augenblick der Ruhe auf unser bisheriges Leben zurück, nicht doch wie alle anderen, die sich zufrieden mit dem Erfolg des uns abgerungenen Lernens und Leistens in einer Gesellschaft einrichten, die unsere Gegenwart respektiert und anerkennt?! Man muss nicht im Krieg gewesen sein, um zu verstehen, warum Krieg schlecht ist. Gleichermaßen muss niemand seine ADHS ausleben, um zu lernen und zu verstehen, dass ein Leben, das allein den eigenen Interessen und Impulsen des Augenblicks folgt, in der Gemeinschaft mit anderen nicht glücklich machen kann!

„Pillen für den Störenfried“ ist besser als manch andere Reportage über die ADHS, die in den letzten Jahren in den Medien zu sehen, zu hören oder zu lesen war. Und doch stellt auch dieser Film nicht die „Systemfrage“, wie Michael Hanfeld in seiner umfangreichen FAZ-Kritik schreibt. Vielmehr werden von Beginn an die altbekannten ideologischen Gegensätze von kindlicher Eigentümlichkeit und sozialer Konformität, von Erziehung und Behandlung, von (Psycho-)Therapie und Medikation aufgerufen. Einmal mehr inszeniert diese Reportage das Denken von Erwachsenen über die ADHS, anstatt Kinder mit ADHS zu beobachten. Luis steht für Eltern, welche den Erfolg ihres Kindes wollen und es dazu verändern müssen; Tim steht für Eltern, welche das Kind lieben, so wie es ist; Philipp steht für Eltern, die im Dschungel sozialer Realitäten nicht mehr wissen, was sie tun sollen.

Im Grunde hat das mit der ADHS wenig zu tun. Den gleichen Film hätte man über Familien mit kleinwüchsigen Kindern drehen können: Eine Familie gibt Hormone; die andere lehnt die Hormonbehandlung ab; die dritte Familie hat trotz Hormontherapie einen minderwüchsigen Jugendlichen mit all den Problemen, die ein 14-jähriger bei einer Körpergröße von 1,30 m haben mag. Wäre das nicht auch mal eine Reportage wert? Es gibt so viel Leben und Leid, das zu veröffentlichen und gesellschaftsweit zu bedenken sich lohnen würde. Warum steht stets die ADHS im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit? Schwer zu sagen. Eines aber weiß ich: An den Kindern liegt es nicht!

Dr. Johannes Streif

 

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